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Dienstag, 15.10.2024

Endstation Bad Kleinen?

27. Juni 1993: Bad Kleinen, der Tod von Wolfgang Grams, der Verfassungsschutzspitzel Klaus Steinmetz und das Ende der RAF - 20 Jahre danach stellt sich schon die Frage: Wen interessiert das alles überhaupt noch? Der Staat, die Linke und auch die gesellschaftliche Entwicklung sind heute an einem anderen Punkt. Doch die Suche nach revolutionären Antworten bleibt aktuell. Im Folgenden ein für die Rote-Hilfe-Zeitung 2/2013 stark überarbeiteter Artikel, der zum ersten Mal im Rahmen der Kampagne zum zehnten Todestag von Wolfgang Grams erschienen war.

Als die RAF 1998 in einer längeren Erklärung ihre Auflösung bekannt gab, überraschte dies niemanden mehr. Viele hatten diesen Schritt als längst überfällig erwartet. Obwohl die RAF ein zentrales Ereignis westdeutscher Nachkriegsgeschichte war und ihre Aktionen Staat und Gesellschaft herausforderten, geriet ihre Selbstauflösung keinesfalls zum Medienereignis. Ihr Schritt bewirkte noch nicht einmal, dass die Sondergesetze und Gesetzesverschärfungen aus dem Arsenal der Terrorismusbekämpfung öffentlich in Frage gestellt wurden. Die Auflösungserklärung war nur noch Formsache, der Versuch das Projekt RAF, das fünf Jahre vorher in Bad Kleinen faktisch zu Ende ging, einigermaßen korrekt abzuschließen.

Rückblende: Die Staatsschutzoperation in Bad Kleinen wurde erst durch den Verfassungsschutzagenten Klaus Steinmetz möglich. Seine über 10-jährige Karriere in linksradikalen Zusammenhängen bis hin zur RAF hing unmittelbar mit der Erosion der revolutionären Linken zusammen. Ihre politische Defensive, der Zerfall ihrer Strukturen und das Loslassen erkämpfter Kriterien waren verkürzt gesagt der Boden, auf dem Steinmetz gedeihen konnte. Und nicht nur für die RAF oder diejenigen die zu ihr Kontakt oder mit Steinmetz zu tun hatten, sondern für die gesamte revolutionäre Linke war Bad Kleinen ein Desaster.

Die Zeit des großen Schweigens

Offenkundig wurde dies in der Zeit nach Bad Kleinen. Die Zeit des großen Schweigens. Und nicht nur der Staat vertuschte, auch die radikale Linke verhielt sich, beschönigend ausgedrückt, abwartend. Obwohl es schon nach ein paar Tagen sehr viele Fragen zu den Todesumständen von Wolfgang Grams gab und die Medien sehr früh im Zusammenhang mit der Staatsschutzoperation von einem Agenten des Verfassungsschutzes sprachen, gab es damals keine Initiativen, um Druck auf die Verantwortlichen zu machen und auf Aufklärung zu drängen. Die gesamte Linke – egal ob revolutionär oder reformistisch - schwieg und handelte noch nicht einmal dann, als sich eine regelrechte Staatskrise abzeichnete. Von ein paar Rücktritten abgesehen, die heute niemanden mehr interessieren, kamen die Staatsapparate relativ glimpflich aus dieser Affäre: Der damals für seine Law-and-Order Sprüche bekannte CDU-Politiker Kanther wurde neuer Bundesinnenminister, Bundeskanzler Helmut Kohl besuchte demonstrativ die GSG9 und auf der politischen Agenda standen, nachdem schon im Frühjahr des gleichen Jahres das Asylrecht drastisch eingeschränkt worden war, weitere innenpolitische Verschärfungen wie das PKK-Verbot, der große Lauschangriff, die verdachtsunabhängigen Kontrollen oder die Erhöhung des "Unterbindungsgewahrsams" auf vier Tage.

Bad Kleinen wurde so zum Synonym für den Endpunkt eines militanten revolutionären Aufbruchs, dessen Wurzeln bis zu den Revolten der 1968er Jahre zurückreichten, und dessen Transformation im epochalen Umbruch scheiterte. Während die RAF mit ihrer Auflösung daraus die Konsequenzen zog, war ein anderer Teil jener 1968er-Generation auf ihrem Marsch durch die Institutionen im jetzt wiedervereinigten Deutschland längst angekommen: Nur ein halbes Jahr nach Gewinn der Bundestagswahlen stand die rot-grüne Koalition schon Gewehr bei Fuß und führte den ersten Krieg nach 1945 mit direkter deutscher Beteiligung. Die Rechtfertigung für die Bombardierung Jugoslawiens lieferten die Grünen gleich mit: Für Menschenrechte und nie wieder Auschwitz. Und so ganz nebenbei wurde damit auch die Gewaltfrage, ob friedlich oder militant, ebenfalls beantwortet. Es war offensichtlich: Die Zeiten hatten sich geändert. Während hierzulande in den frühen 1980er Jahren noch Hunderttausende gegen einen drohenden Krieg demonstrierten, stellten sich jetzt nur noch ein paar Tausend gegen den realen Ernstfall quer.

Keine Frage: Auf die revolutionäre Linke übte Gewalt schon immer eine gewisse Anziehungskraft aus. Marx sah sieh als Geburtshelferin der Geschichte und der alte maoistische Spruch „Macht kommt aus den Gewehrläufen“ ist schon deswegen falsch, weil er Macht und Gewalt gleichsetzt. Dennoch, die Option Guerilla war von allen diskutierten Möglichkeiten vielleicht noch der ernsthafteste Versuch einer revolutionären Transformation, denn die ausgangs der 1960er Jahre neu entstandene Linke zersplitterte sich sehr schnell in vielfältige Grüppchen und Parteien. Ideologisch verknöchert, im Kostüm der alten KPD und bis zur Weltrevolution den Plan im Sack war für viele ausgemacht, wohin die Reise gehen sollte. Im Angebot waren die Sowjetunion, China, oder Enver Hoxhas Albanien. Und obwohl schon längst Geschichte reicht die Wirkung des militanten revolutionären Kampfs bis in die Gegenwart. Als Mythos, als Albtraum, je nach dem, denn er war immer auch Projektionsfläche unerfüllter und oft genug unerfüllbarer revolutionärer Sehnsüchte und genauso oft Bedrohung der eigenen, auch der linken, Lebensweise und Selbstzufriedenheit in den Metropolen. Es ist also kein Zufall, dass es unendlich viele Bücher und mehr als zwanzig Filme, davon die meisten in den letzten 10 Jahren, zu diesem Thema gibt.

Entwicklung einer Offensivposition in den Metropolen

Die militante Linke in Westdeutschland hatte ihre Herkunft aus der stark studentisch geprägten 1968er-Bewegung nie verleugnet. Trotz Massendemonstrationen, Barrikaden und Streiks war aber das entscheidende Ereignis jener Zeit Vietnam. Der vietnamesische Freiheitskampf legte die Lunte an die Proteste. Er hatte für die gesamte Linke in den Metropolen den „Bereich des Möglichen“, wie es Sartre einmal formulierte, erweitert. Ohne die bewusste Verbindung mit den damaligen antikolonialen und antiimperialistischen Kämpfen des Südens war eine Revolutionierung der Verhältnisse in den Metropolen nicht denkbar. Anders gesagt: Nicht die unmittelbare Realität der Metropole BRD war Ausgangspunkt revolutionären Denkens und Handelns, sondern die Totalität des imperialistischen Weltsystems, wie man das damals nannte. Den Widerstand politisch und militärisch bewaffnen und durch die Entwicklung einer Offensivposition in den Metropolen das internationale Kräfteverhältnis verändern. Gegen die Verstaatlichung und Umzingelung der Kämpfe und gegen die sich abzeichnende Befriedung. Dieses Verständnis von Internationalismus und Subjektivität war nicht nur für die RAF sondern eine ganze Generation von Militanten grundlegend.

Heute ist die globale Entwicklung an einem anderen Punkt. Der technologische Sprung, die auch damit zusammenhängende strukturelle Neuordnung gesellschaftlicher Verhältnisse und die Veränderung der internationalen Kräfteverhältnisse seit gut dreißig Jahren stellen alle Vorstellungen über Revolution, revolutionäre Organisierung, über Formen und Mittel des Kampfs auf den Prüfstand. Was einst auf der Höhe der Zeit eine adäquate Antwort auf die bestehenden Verhältnisse war, würde im alten „Weiter so!“ nur noch anachronistisch wirken. Aber genauso sicher ist, dass der abgerissene Faden revolutionärer Politik in neuer Form und mit neuen Methoden wieder aufgenommen werden wird. Es geht dabei zuerst einmal um solche Fragen, die sich alle, die die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend ändern wollen, immer wieder neu stellen müssen: Wie werden wir zu einer Kraft? Was bedeuten heutzutage Emanzipation und Freiheit hier und weltweit im Spannungsfeld von imperialen Kriegen und globaler Krise? Welche Voraussetzungen müssen überhaupt geschaffen werden, um die revolutionäre Initiative wiederzuerlangen? Und egal welche Antworten wir dann darauf in der Praxis finden werden, wird eine historische Wahrheit bestehen bleiben: Rebellion gegen die herrschenden Verhältnisse ist jederzeit gerechtfertigt.

Schlecht sind die Zeiten für grundlegende Veränderungen allemal nicht. Mit dem "Arabischen Frühling" wurde die Frage der Revolution nach langen Jahren der Stagnation wieder zur Tagespolitik. Nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse in Tunesien oder Ägypten befinden sich im Prozess der Veränderungen, es wurde eine Dynamik freigesetzt, die in ihrer Wirkung bis nach Europa ausstrahlt und für viele ganz subjektiv die Möglichkeiten grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen erfahrbar macht. Es sind neue Kämpfe für Selbstbestimmung, Freiheit und Würde, die sich seit ein paar Jahren überall auf der Welt entwickeln und deren Botschaft schon jetzt unüberhörbar ist: Wer die Verfügungsgewalt über das eigene wie das gesellschaftliche Leben erkämpfen will, muss die Systemfrage stellen. Drunter ist auch heute nichts zu haben.

Initiative Libertad!

Quelle: Rote Hilfe Zeitung 2/2013, S. 20f

Zur Webseite der Kampagne aus dem Jahr 2003:


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