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Freitag, 22.11.2024

Griechenland: Eine ängstliche und rachsüchtige Demokratie


Vor vielen Jahren, im Sommer 2012, gelang dem griechischen Staat der größte Fahn­dungserfolg nach der Niederlage der "Kommunistischen Banden" 1949 (1): Er hob die Revolutionäre Organisation "17. November" (2) aus. Natürlich waren zuvor auch andere Erfolge zu verzeichnen, wie die Unterdrückung der Revolte am Polytechnikum 1973 (3); aber die werden verschwiegen, weil sie durch einen "anderen" Staat erzielt wurden, einen bösen und diktatorischen...

Und doch: Es gibt eine "Kontinuität des Staats", wie sich Ministerpräsident Alexis Tsipras beeilte, uns zu versichern, nachdem er die Regierungsverantwortung über­nommen hatte. Als wären wir Kinder... So also begann, im Sommer 2002, unter den Lobes­hymnen der Medien und der Gesamtheit des politischen Personals eine neue Periode der Demokratie in Griechenland, die Periode, die als "besondere" bezeichnet wird und die einige böswillig Gesinnte die des "Ausschlusses von Rechten" nennen.

Die als Mitglieder des 17N Angeklagten wurden unter "besonderen" Bedingungen ge­fangen gehalten (4), unter "besonderen" Bedingungen vor Gericht gestellt (5) und natürlich in ihrer großen Mehrheit mit "besonderen" Strafen (6) verurteilt. Und all dies unter Miss­achtung der Verfassung, wo es ausdrücklich heißt, dass politische Verbrechen vor Ge­schwore­nen­gerichten verhandelt werden. Das gesamte Klima erinnerte an die Heilige Inquisi­tion. So brachte es also die Demokratie fertig, ihre Bürger vom 17N zu befreien, Rechts­staat und Wohlstand zu gewährleisten. Aber, wie wir gesagt haben, der Staat hat Kon­tinuität. Deshalb ist die Demokratie nie ruhig, sie vergißt nicht, sie vergibt nicht. Sie ist wachsam, sie bestraft und sie rächt...

So vergingen die Jahre und wir kamen ins Jahr 2010. Damals erlangten nach dem Gesetz die zu Lebenslang verurteilten Mitglieder des 17N das Recht auf Haftlocke­run­gen (7). Einige bekamen, vorsichtig und eingeschränkt (8), Lockerungen, jedoch nie Koufodi­nas und Giotopoulos. Ihre Anträge wurden entweder nie beschieden oder sie erhielten Ab­lehnungen ohne jede Begründung. Auf die wiederholten Interventionen von Vertei­di­gern und von mit Dimitris Koufodinas solidarischen Menschen (Alexander Giotopoulos ver­­folgt seinen eigenen Weg) waren die Antworten widersprüchlich (die Gefängnis­leitung verwies auf das Justizministerium und umgekehrt) mit gleichzeitigen "Andeutun­gen", dass das Problem bald gelöst werde.

So vergingen mit diesem und jenem weitere Jahre (insgesamt 13,5), bis die politische Führung des Justizministeriums, vollkommen demokratisch und vereinbar mit dem "moralischen Vorrang der Linken", Dimitris Koufodinas folgendes antwortete: Erstens, dass er Haftlockerungen nicht schon nach acht, sondern erst nach 13 Jahren beanspru­chen könne, weil er neben dem Lebenslang noch eine Strafe von 25 Jahren verbüße (als ob ihm zwei Lockerungen gewährt würden, eine für das Lebenslang und eine ande­re für die 25 Jahre!), und zweitens – da er ja nun diese unsägliche Bedingung erfülle, nachdem er im September 2015 13 Jahre Haft verbüßt habe –, daß sein Ver­halten als Strafgefangener nicht vereinbar sei mit der Gewährung von Lockerungen, da er "fort­fahre, mit Veröffentlichungen den Terrorismus zu unterstützen" – ach, diese Linke, wie sensibel ist sie doch immer bei ideologischen Fragen...

Dimitris Koufodinas bekommt also keine Haftlockerungen, weil er kein Reuebekenntnis ablegt? Vorausgegangen war die Erklärung des zuständigen Ministers Nikos Para­ske­vopoulos (9), daß es "in Griechenland keine politischen Gefangen" gebe, eine offenbar ab­ge­droschene Phrase. Aber wenn er seiner eigenen Aussage zustimmt, was kümmert es ihn dann, wo doch Koufodinas als "einfacher" Gefangener alle Voraussetzungen für die Gewährung von Lockerungen erfüllt, ob dieser den "Terrorismus" unterstützt, die Bewe­gung in Chalkidiki gegen den Goldabbau (10) oder die AEK (11)?

Leider jedoch kümmert es den feinen und besonnenen Herrn Paraskevopoulos, und es kümmert ihn sogar sehr, wie auch seine Untergebenen und die Gesamtheit der Re­gie­rung mit dem Premierminister an herausragender Stelle, weil sie sich vollständig iden­tifizieren mit den Ansichten des "tiefen Staats"(12) für die Verhängung neuer Strafen, während noch die Höchststrafe verbüßt wird, mit der transatlantischen Auffassung des "Anti-Terrors" (die wegbereitend war in Hinsicht auf den Druck, der zur Absetzung eines Theaterstücks führte, das sich auf ein Buch von Savvas Xiros be­zog (13) – der übrigens trotz Verabschiedung des entsprechenden Gesetzes im Gefängnis Korydallos verbleibt (14)), mit einer vollkommen konservativen regimeverbundenen Men­talität, die zwar jedwede Erpressung und Putsch verdauen, aber nicht einmal den ge­ringsten Zweifel am staatlichen Gewaltmonopol tolerieren kann.

Also gut, der Staat besitzt Kontinuität... Die Linke, die autonome (15) Szene, die demo­kra­tischen Intellektuellen stehen in keinerlei Kontinuität? Können so viele linke Organisa­tio­nen, die an allen Enden der Erde Aktivisten, die wegen "Terrorismus" verfolgt werden, unterstützen, weiterhin stillschweigen bei dieser extremen Verletzung grundlegender Rechte von Dimitris Koufodinas und Alexandros Giotopoulos? Wie lange dient der Me­moranden-Kahlschlag (16) als Alibi für die Abkehr von Problemen, die einen untrennbaren Bezug zum Kern der Werte der Linken haben (sollten)? Warum hat die militante – und am meisten gegenüber politischen Gefangenen sensible – autonom-anarchistische Szene dieser zentralen Frage von Freiheit und Würde keinen Vorrang eingeräumt? Diejenigen Intellektuellen, die weiterhin glauben, dass es keine überflüssigen Rechte und keine entbehrlichen Menschen gibt, müssen die jetzt nicht reden?

Wir geben nicht vor, das "Gewissen" von irgendjemand zu sein (im übrigen sind auch wir sehr spät dran und haben viel versäumt); gleichwohl starten wir diesen Aufruf, aktiv zu werden und den Kampf aufzunehmen, weil wir der festen Überzeugung sind, dass abgesehen von dem Vorgang der körperlichen und psychischen Vernichtung, dem Koufodinas und Giotopoulos unterworfen werden, die Frage der Haftlockerungen die Frei­heit und Würde von sehr viel mehr Menschen betrifft – innerhalb und außerhalb des Gefängnisses. Hört Euch das mal an, Reuebekenntnis...

KOMITEE FÜR DIE GEWÄHRUNG VON LOCKERUNGEN FÜR DIE POLITISCHEN GEFANGENEN
ANTIEXOUSIASTIKI KINISI (Antiautoritäre Bewegung), ATHEN
NETZWERK FÜR POLITISCHE UND SOZIALE RECHTE

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(1)  Ende des griech. Bürgerkriegs
(2) Der "17. November" (17N) war eine marxistisch-leninistische Organisation und seit 1975, also kurz nach dem Sturz der Militärdiktatur 1974, aktiv. Er verübte bis zu seiner Zerschlagung 2002 über 100 Anschlä­ge; 23 Menschen wurden getötet.
(3)  Die Revolte am Polytechnikum wurde am 17. Nov. 1973 von der Junta zerschlagen; daher der Name der Organisation.
(4) Es war das erste Mal, daß in GR nach der Juntazeit Isolationshaft praktiziert wurde.
(5) Das Verfahren fand, nachdem dafür das Gesetz kurzfristig geändert worden war, vor einem nur mit Berufs­richtern besetzten Sondergericht und in einem Sondergebäude innerhalb des Gefängnisgeländes statt.
(6)  Obwohl den einzelnen Angeklagten in ihrer übergroßen Mehrheit keine einzelnen Taten zugeordnet wer­den konnten, wurden sie fast alle als Mittäter oder Anstifter verurteilt. Giotopoulos erhielt als "An­führer" 21 mal Lebenslänglich (2. Inst. 17 mal), Koufodinas 13 mal Lebenslänglich (2. Inst. 11 mal), jeweils + 25 Jahre zeitliche Höchststrafe.
(7) Lockerungen bedeutet nach griech. Recht Urlaub aus bzw. vom Gefängnis. Der normale Urlaub dauert i. d. R. mehrere Tage. Daneben gibt es als Ausnahme den (unbegleiteten) Ausgang von 24 Std. bei Tod oder schwerer Krankheit eines nahen Angehörigen. Lebenslängliche erhalten Lockerungen nach frü­he­stens 8 Jahren; bei Zeitstrafen muss mindestens 1/5 verbüßt sein.
(8) soweit es Dauer und Häufigkeit betraf und betrifft
(9) Justizminister
(10)  Gegen den geplanten Goldabbau in Skouries und die damit verbundene Zerstörung der Lebensbe­din­gungen der Bevölkerung gibt es seit Jahren große Kämpfe. Einzelne Ortsansässige wurden bereits monatelang ins Gefängnis gesteckt und ihnen ein Verfahren wegen "Bildung einer kriminellen Ver­einigung" angehängt.
(11) Athener Fußballverein, besonders beliebt bei der radikalen Linken und der anarchistischen Szene
(12) Mit dem "tiefen Staat", "Parallelstaat" oder "Schattenstaat" ist die Seite des staatlichen Apparats ge­meint, die neben oder außerhalb der Gesetze agiert. So spielt z. B. die Polizei häufig ihr eigenes Spiel und ignoriert Vorgaben der vorgesetzten Dienststellen; sie foltert und richtet extralegal hin. Den "tiefen Staat" findet man auch beim Militär oder der Justiz, z. B. wenn gesetzliche Vorgaben bewußt außer Acht gelassen werden.
(13) Es handelte sich um ein Theaterstück nach Camus, Die Gerechten, in das Szenen aus Savvas Xiros' Buch, das in Deutschland unter dem Titel "Guantanamo auf griechisch" erschienen ist, eingebaut wa­ren. Das Stück wurde auf der Experimentellen Bühne des Staatstheaters aufgeführt und nach enormem Druck der gesamten Reaktion und zumindest der Familie eines Opfers vorzeitig abgesetzt. Eine führen­de Rolle bei dieser Hetze spielte der US-amerikanische Botschafter, der sich per Twitter für die soforti­ge Absetzung stark machte.
(14) S. Xiros ist in der Folge seiner Verletzung unmittelbar vor der Festnahme zu 90 % schwerbehindert. Die 1. Syriza-Regierung hat ein Gesetz verabschiedet, daß es zu mehr als 80 % Behinderten erlaubt, die Strafe im Hausarrest zu verbüßen. Bedingung ist jedoch – wiederum auf Druck von Reaktion, Opfern und ihren Familien (v. a. der Familie Mitsotakis/Bakogiannis) und der US-Botschaft –, daß der Verurteilte eine elektronische Fußfessel trägt, etwas, das S. Xiros bisher ablehnt.
(15) wörtl.: antiautoritäre, libertäre (αντιεξουσιαστική)
(16) wörtl.: Wirbelwind, -sturm, Hurrikan


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