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Dienstag, 08.10.2024

Denn sie wissen, was sie tun: Text

parole
"Sobald man einen Despoten auftauchen sieht, so kann man sicher sein, bald einem Rechtsgelehrten zu begegnen, der voller Gelehrsamkeit beweisen wird, dass die Gewalt legitim ist und dass die Besiegten schuldig sind“.
Alexis de Tocqueville


Gleich hinterm deutschen Gartenzaun wird die Welt gefährlich. Die Umgangsformen werden rauer, Terroristen lauern, Piraten überfallen Handelsschiffe und illegale Einwanderer drohen mit Überflutung. Die Welt könnte schön sein und auch gut, aber sie ist es nicht. Nicht in Afghanistan, nicht in Somalia, nicht im Gaza-Streifen, nicht an den europäischen Außengrenzen und auch nicht in einem deutschen Flüchtlingslager. Ja, noch nicht einmal im Sauerland. “Das sind sehr gefährliche Leute”,wusste schon der ehemalige US-Generalstabschef Richard B. Myers von den Gefangenen in Guantanamo zu sagen, “die würden die Hydraulik im Hinterraum einer C-17 durchnagen, um sie zum Absturz zu bringen”.
Der Krieg gegen den Terror geht jetzt in sein zehntes Jahr, ohne Aussicht auf Erfolg, aber immer mit der Option ihn mit möglichst wenig eigenen Verlusten und ohne großen Imageschaden aufrechtzuerhalten. Ein moderner Abnutzungskrieg vor allem auf Kosten der Bevölkerung in den Kriegsgebieten, wo der Ausnahmezustand die Regel ist. So erklärte der israelische Außenminister Lieberman auf die Frage des “Spiegels” nach einer Lösung im israelisch-palästinensischen Konflikt: “Ich sehe derzeit keine Lösung, wir sollten uns darauf konzentrieren, den Konflikt zu managen. Sehen sie eine Lösung in Afghanistan? Im Irak?”
Während sich in den westlichen Medien an der Grundausrichtung des Kriegs gegen den Terror über die Jahre nur wenig Kritik entzündete, stand Guantanamo schon sehr bald in ihrem Brennpunkt. Das Gefangenenlager wurde zum Synonym für Folter und Menschenrechtsverletzungen in der Bush-Ära, sodass Obama im Januar 2009 offiziell verkündete: Guantanamo soll innerhalb eines Jahres geschlossen werden. CIA-Gefängnisse und “harte Verhörmethoden” werde es nicht mehr geben.


Wohin mit dem "Sondermüll" (Newsweek)?


Doch Obamas Ankündigungen und die Realpolitik der US-Sicherheitsbehörden sind zwei Paar Schuh. Guantanamo existiert immer noch und das Internierungslager in Bagram in Afghanistan wurde in den letzten Jahren für 60 Millionen Dollar ausgebaut. Dort werden zurzeit rund 600 Gefangene (offizielle Zahlen gibt es nicht), die ja im eigentlich klassischen Sinn Kriegsgefangene sind, als “feindliche Kämpfer” ohne anwaltlichen Schutz festgehalten und verhört. Auch das globale Netzwerk aus Geheimgefängnissen (black sites) scheint weiterhin ein Bestandteil des Antiterrorkriegs zu sein. Laut eines Berichts des UN-Menschenrechtsrates wurden in mindestens 66 der 192 UNO-Staaten seit den Anschlägen vom 11. September mehrere tausend Personen illegal in geheimen Gefängnissen inhaftiert und dort oftmals gefoltert.
Und was passiert mit den Gefangenen in Guantanamo? Planungen gehen davon aus, dass rund 60 der ungefähr zweihundert verbliebenen Gefangenen in die USA in Hochsicherheitsgefängnisse verlegt werden. Von denen wiederum soll nur ein Teil vor Gericht gestellt werden, wie zum Beispiel die “Guantanamo Five” (Chalid Scheich Mohammed, Ramsi Binalshibh und weitere) als mutmaßliche Drahtzieher der Anschläge vom 11. September. Der Rest  kann entweder nicht angeklagt werden, weil die Beweise wegen Folter nicht gerichtsverwertbar sind, oder die Gefangenen gelten als so gefährlich, dass sie auch ohne Anklage und Verurteilung, nicht entlassen werden. Weitere Gefangene sollen ihren Prozess direkt in Guantanamo vor einer Militärkommission erhalten, weil dort die Verwendung von unter Folter gemachten Aussagen ausdrücklich erlaubt ist. Es verbleiben 116 Gefangene, die in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden oder in verschiedenen Drittländern Asyl finden sollen.
Die Schließung von Guantanamo wurde als großer Einschnitt und Paradigmenwechsel der Öffentlichkeit präsentiert, um eineinhalb Jahre später als kleinkariertes Krisenmanagement zu enden. Die angekündigte Freilassung von Gefangenen und die Suche nach Aufnahmeländern erinnert zynisch gesprochen an die Frage von Newsweek, wohin mit dem Sondermüll. Und auch der Status derjenigen, die mit Hinweis auf ihre angebliche Gefährlichkeit in Haft bleiben sollen, ist nach wie vor ungeklärt. Dieser Eiertanz erklärt sich aus dem Missverhältnis zwischen eigenem großspurigen Menschenrechtsanspruch, für den man bereit ist Kriege zu führen und der realen Bereitschaft ihn jederzeit über Bord zu werfen, wenn es opportun erscheint. Guantanamo war weder in der amerikanischen noch in der europäischen Öffentlichkeit länger haltbar, aber die Konstruktion der “unlawful combatants” und der damit einhergehende Status der Rechtlosigkeit schon.


Der Anspruch auf Folter


Deutschland war und ist neben seinem militärischen Engagement in Afghanistan und an anderen Orten des globalen Kriegs auch an der Frage der Folter in das System “Guantanamo” und den schmutzigen Antiterrorkrieg eingebunden. Dafür stehen exemplarisch zwei Namen: Muhammad Zammar und Murat Kurnaz. Beide “Fälle” wurden auch in den bürgerlichen Medien ausführlich dargestellt.
Es waren deutsche Sicherheitsbehörden, die den entscheidenden Tipp zur Festnahme und Verschleppung Zammars in einen syrischen Folterkeller gaben, wo er bis heute inhaftiert ist. Es waren auch deutsche Sicherheitsbehörden, und nicht allein die CIA, die ihre Fragelisten direkt an die syrischen Folterspezialisten schickten. Und es war ein Team bestehend aus Bundesnachrichtendienst, Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt, das ein Jahr nach seiner Festnahme, im November 2002, zur Vernehmung nach Syrien reiste. Ähnlich die Situation bei Murat Kurnaz: Über seine Verhaftung in Pakistan und seine Verschleppung nach Guantanamo waren die deutschen Behörden von Anfang an im Bilde. Auch hier kamen kurze Zeit nach seiner Inhaftierung Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes und des Verfassungsschutzes nach Guantanamo gereist, um ihn zweieinhalb Tage lang zu verhören. Selbst als die US-amerikanischen Behörden signalisierten, dass Murat Kurnaz freikommen könnte, stimmte die deutsche Regierung keineswegs zu. Für sie war der “Bremer Taliban” verdächtig, “ein potentieller Gefährder”, wie es BND-Chef Uhrlau formulierte, der vor allem eines nicht sollte: Nach Deutschland zurückkommen.
Die repressive Entwicklung in Staat und Gesellschaft, die sich aufgrund veränderter weltweiter Kräfteverhältnisse schon vor dem 11. September abzeichnete, erfuhr durch diesen eine ungeheure Beschleunigung. Passend dazu erleben wir seit ein paar Jahren eine gesellschaftliche Debatte, die das absolute Folterverbot zunehmend in Frage stellt. Das bekannteste Beispiel dafür ist in Deutschland sicher die Diskussion um den ehemaligen Frankfurter Polizeivizepräsidenten Daschner, der im Herbst 2002 einem Kindesentführer Folter androhen ließ. Nein, ein Einzelfall war der “Fall Daschner” nicht. Besonders in akademischen Kreisen mehren sich die Stimmen das Folterverbot zu relativieren.
An vorderster Front befinden sich dabei einige deutsche Juristen, vor allem Straf- und Staatsrechtler an verschiedenen Instituten, die sich verstärkt mit der Frage beschäftigen, ob Folter in bestimmten Gefahrensituationen gerechtfertigt, ja sogar geboten sei, um diese dann entweder mit einem relativierenden “Nein, aber” oder auch gleich mit einem eindeutigen “Ja, sicher” zu beantworten. Unser Plakat konzentriert sich im Wesentlichen auf diese Berufsgruppe und ihr Treiben. Dabei möchten wir betonen, dass das, was wir hier an Juristen deutlich machen, in gleichem Maße zum Beispiel auch für Ärzte gilt. Als Stichworte seien genannt: Zwangsernährung von politischen Gefangenen um ihren Hungerstreik zu brechen oder die gewaltsame Verabreichung von Brechmitteln gegen des Drogenhandels verdächtige Personen. Und genauso wie das System der Folter Ideologen braucht, die ihre Rechtmäßigkeit öffentlich propagieren, funktioniert die Folter von der medizinischen Überwachung bis zur direkten Beteiligung nicht ohne Ärzte.
“Wer Folter befürwortet, foltert mit!” Deswegen: Folterbefürworter müssen öffentlich benannt und kenntlich gemacht werden. Die Tatsache, dass dabei die Relativierung des Folterverbots durch eine Riege hochrangiger Juristen betrieben wird, darf einen nicht verwundern. Die westlichen Demokratien sind auch dadurch charakterisiert, dass die Ausweitung imperialer Macht, die Verschärfung von Ausbeutung und Unterdrückung unter Beibehaltung der äußeren demokratischen Formen und Institutionen erfolgen muss. Der permanente Kriegs- und Ausnahmezustand, in dem wir uns weltweit befinden, wird sozusagen als Normalzustand geregelt und letztendlich verrechtlicht.


Der Schlüsselbegriff ist Feindstrafrecht


Im Visier der juristischen Schreibtischtäter ist das gefährliche Individuum, das erklärtermaßen außerhalb von Recht und Gesellschaft steht. “Der Feind ist ein Individuum, das sich in einem nicht nur beiläufigen Maß in seiner Haltung..., oder seinem Erwerbsleben...oder, hauptsächlich, durch seine Einbindung in eine Organisation, also jedenfalls vermutlich dauerhaft vom Recht abgewandt hat und insoweit kognitive Mindestsicherheit personellen Verhaltens nicht garantiert und dieses Defizit durch sein Verhalten demonstriert.” Da ist es wieder, das gefährliche Individuum, das bereit ist, die Hydraulik eines Flugzeuges durchzunagen, um es zum Absturz zu bringen. Das Zitat stammt vom vielleicht prominentesten Fürsprecher des so genannten Feindstrafrechts, dem emeritierten Bonner Strafrechtsprofessors Günther Jakobs.
In seinem Aufsatz mit dem Titel Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht von 2004 wird er dann noch deutlicher. Anfangs philosophiert er über Kant, Fichte und andere, um dann schließlich so richtig zur Sache zu kommen: “Wer den Krieg gewinnt, bestimmt, was Norm ist, und wer verliert, hat sich dieser Bestimmung zu beugen. Wem das alles noch dunkel erscheint, dem sei durch einen Hinweis auf die Taten vom 11. September 2001 blitzartig zu einer Erhellung verholfen. (...)Verbrechen bleiben auch dann Verbrechen, wenn sie mit radikalen Absichten und im großen Stil begangen werden. Aber es ist doch sehr wohl zu fragen, ob nicht durch die strikte Fixierung allein auf die Kategorie des Verbrechens dem Staat eine Bindung auferlegt wird -  eben die Notwendigkeit, den Täter als Person zu respektieren - die gegenüber einem Terroristen, der die Erwartung generell personalen Verhaltens gerade nicht rechtfertigt, schlechthin unangemessen ist.”
Die logische Konsequenz dieses Denkens ist Guantanamo. So sieht das auch Otto Depenheuer, Staatsrechtsprofessor in Köln. Bekannt wurde er mit einem Buch, das den Titel „Selbstbehauptung des Rechtsstaates” trägt. Darin kann man lesen, dass Rechtlosigkeit, Guantanamo und Folter angesichts des islamistischen Terrors gerechtfertigt seien: “Der Feind ist die Negation des Bürgers im status civilis, er steht als Mensch außerhalb des Gesellschaftsvertrags, aus ihm kann er keine Rechte für sich herleiten. Der Feind ist verfassungstheoretisch nicht Rechtsperson, die das geltende Recht prinzipiell achtet, sondern Gefahr, die um der Rechtsgeltung willen bekämpft werden muss. (...) Phänomenologische Chiffre für die Rechtlosigkeit des Feindes und Maßgeblichkeit reiner Staatsräson steht Guantanamo‚ als ein Ort, an dem Recht so lange suspendiert ist, wie die Gefahr andauert. Die Gefangenen haben hier nicht den Status von Rechtssubjekten, sie haben nur noch ihr nacktes Leben‚. (...) Systematisch zum Feindgefahrenabwehrrecht würden auch spezielle (...) Maßnahmen der präventiven Sicherungsverwahrung ebenso zählen wie solche der Internierung potenziell gefährlicher Personen oder die kontrovers diskutierte Frage nach einer ‘rechtsstaatlich domestizierten’ Folter.”
Rechtsstaatlich domestizierte Folter. Das ist es, was diese Herren so umtreibt. Ein weiterer Begriff, mit dem man versucht Folter quasi positiv zu besetzen, ist “Rettungsfolter”. So vertritt schon seit Mitte der 1990er Jahre der Heidelberger Rechtswissenschaftler Winfried Brugger die These, dass Folter in bestimmten Gefahrensituationen gerechtfertigt, ja sogar geboten sei. Brugger entwirft folgendes Horrorszenario, das ein bisschen an die bis 1983 praktizierten Gewissensprüfungen für Kriegsdienstverweigerer erinnert: “Eine Stadt wird von einem Terroristen mittels einer chemischen Bombe erpresst. Der Verdächtige wird gefasst und berichtet glaubhaft, den Zeitzünder der Bombe bereits betätigt zu haben. Sobald die Bombe hochgehe, würden alle Einwohner der Stadt eines grausamen Todes sterben. Die Androhung aller Zwangsmittel nützt nichts, der Verdächtige schweigt.” Davon ausgehend baut er seine Argumentation auf. Ergebnis: In einer solchen Situation sei Folter nicht nur erlaubt, der Staat habe sogar die Pflicht zu foltern, um Informationen über das Versteck der Bombe zu erhalten. Brugger wörtlich: “Das Ergebnis (...) ist, so erstaunlich das klingen mag, dass die Polizei nicht nur ausnahmsweise in diesem Fall foltern darf, sie muss es sogar in der geschilderten Sachverhaltskonstellation. Und die betroffenen Bürger haben einen Anspruch darauf.” In einer Probeklausur, die Professor Brugger ausgehend von seinem konstruierten Beispiel schreiben ließ, kamen zweidrittel der Jurastudentinnen und Studenten zum gleichen Ergebnis: Die Polizei muss foltern.
Der Begriff Rettungsfolter wurde übrigens von Reinhard Merkel im Zusammenhang des Falls Daschner geprägt. Dieser Strafrechtsprofessor in Hamburg ist wie seine Kollegen ein Freund markiger Worte. So meinte er, dass ein Staat, der trotz einer Bedrohung nicht foltere, zum Gehilfen an einem Massenmord werde. Und um aller Welt seine Thesen zu erklären, bot ihm “Die Zeit” 2008 dafür auch noch ausführlich Platz an. Wie schon bei Brugger ist der Ausgangspunkt ein konstruiertes Beispiel: „In einem Raum, den keiner der Insassen in nächster Zeit verlassen kann, sagen wir an Bord einer Verkehrsmaschine über dem Atlantik, wird eine Bombe gefunden. Sie hat einen Zeitzünder, der sie in dreißig Minuten zur Explosion bringen wird. Der Bombenleger, Selbstmordattentäter irgendeiner terroristischen Provenienz, ist ebenfalls an Bord und wird identifiziert. Er weigert sich, den nur ihm bekannten Code des Zündmechanismus zu offenbaren. An eine rechtzeitige Notlandung ist nicht zu denken. Ebenfalls an Bord ist, in dienstlicher Eigenschaft, der Polizist P. Ihm bleiben zwei Möglichkeiten: den Attentäter durch die Androhung und im Fall des Misslingens durch die Zufügung von Schmerzen zum Entschärfen der Bombe zu zwingen oder sich mitsamt den anderen Passagieren töten zu lassen.”
Mit Realität hat das selbstverständlich nichts zu tun. Aber darum geht es auch nicht. Entscheidend ist, dass mit solchen Beispielen in den Medien die Folter, positiv gewendet als Rettungsfolter, salonfähig gemacht werden soll. So schreibt er weiter: “Was macht die schlagende Evidenz des Falles aus? Was ist es, das hier sogar den sonst fraglosen Grundsatz erschüttert, Folter sei »absolut«, also unter allen denkbaren Umständen verboten? Es ist die Situation der Notwehr. Das Recht auf Notwehr, das hat schon Kant gewusst, ist »das heiligste Recht« der Person.”
Von der tickenden Bombe über das heilige Notwehrrecht zur Aufkündigung der Anti-Folter-Konvention. Für Reinhard Merkel ist das ein Katzensprung: “Wer jemandem das Notwehrrecht nimmt, nimmt ihm das Recht selbst, das zu verteidigen untersagt wird. Ein Grundrecht auf Leben, das gegen rechtswidrige Angriffe nicht verteidigt werden dürfte, wäre keines mehr. Deshalb ist der Staat des Grundgesetzes nicht berechtigt, sich in völkerrechtlichen Verträgen an absolute Verbote zu binden, die einzelnen seiner Bürger in bestimmten Situationen das Recht zur Notwehr nehmen. Aber hat er das nicht? Ja, das hat er...”
Folgerichtig stehen am Ende seines Artikels Überlegungen, dass Deutschland der Anti-Folter-Konvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte nicht hätte beitreten sollen, weil diese völkerrechtlichen Verträge ein absolutes Folterverbot enthalten.
Fazit: Für Juristen wie Jakobs, Depenheuer, Brugger, Merkel u.a. stehen diejenigen, die Staat und Gesellschaft bekämpfen, zwangsläufig außerhalb des geltenden Rechts und sind notfalls zum Abschuss freigegeben. Feindstrafrecht ist für sie nichts anderes als eine “Bekämpfungsgesetzgebung” und somit “gebändigter Krieg”. Die Konstruktion des gefährlichen Individuums zielt jedoch nicht nur auf Dschihadisten, sondern meint genauso kommunistische Guerillas, anarchistische Rebellen oder Widerstands-Aktivist/innen aus sozialen Bewegungen. In letzter Konsequenz kann damit jedes nicht systemkonforme Verhalten stigmatisiert, sozial ausgegrenzt und kriminalisiert werden.


Neu ist das in Deutschland nicht


Vorstöße das Folterverbot in der BRD zu delegitimieren, hat es von prominenter Seite in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gegeben. Auch wenn darin oft schon eine Systematik erkennbar war, blieben diese Vorstöße an ein unmittelbares Ereignis gekoppelt oder an eine als Bedrohung definierte Situation, die es ermöglichen sollte Folter als Ausnahme, sozusagen als “letztes Mittel” möglich zu machen. Dafür stehen Ernst Albrecht, Ministerpräsident von Niedersachsen in den 1970er Jahren oder Franz-Josef Strauss u.v.a. während und nach dem so genannten “Deutschen Herbst”. Sie machten Stimmung gegen die Gefangenen aus der Guerilla von RAF und Bewegung 2. Juni und wollten Handlungsspielraum für Polizei und Geheimdienste schaffen. All das bezog sich auf die “blutige Folter” und damit auf die unmittelbare Informationsgewinnung.
Obwohl es das auch als reale Praktiken in der Bekämpfung von Guerillagruppen gab, in anderen europäischen Ländern (in Spanien gegen die ETA, in Italien nach der Entführung des NATO-Generals Dozier) mehr als in Deutschland, aber auch hier, konzentrierte sich die Staatsschutz-Bürokratie und Rechtswissenschaft eher darauf, die Formen der auf langfristige Wirkung ausgerichteten “verdeckte”, “stille” oder auch “weiße” Folter genannten Zerstörung der politischen Gefangenen zu systematisieren und zu rechtfertigen. Bestimmend war dabei die Leugnung der Folter, das Abstreiten.
Erst als es den Gefangenen aus der RAF gelang, die Isolationshaft als wissenschaftliches Folterprojekt kenntlich zu machen und den Kampf gegen die Isolationsfolter mit Kampagnen und Hungerstreiks auf die Tagesordnung zu setzen, begann staatlicherseits die planmäßige Rechtfertigung der Isolationshaftbedingungen. Und selbst nachdem in der internationalen wissenschaftlichen Literatur wie auch in der Öffentlichkeit Isolationshaft und Kleinstgruppen-Isolation als Folter-Methoden zur Brechung des Willens von Gefangenen und “Umdrehen” belegt waren, versuchte die Bundesregierung weiterhin diese Tatsache entweder zu leugnen oder zu verharmlosen. Als dieses nicht verfing, setzte erneut die Rechtfertigung ein: das haben sich die Gefangenen doch selbst zuzuschreiben! Das wurde auch höchstrichterlich unterfüttert. Prägend blieb aber die Leugnung und, wie es damals hieß, „die Behauptung des Normalzustandes”.
Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zum aktuellen Folter-Diskurs. Seit dem 11. September und dem “Fall Daschner” wird Folter immer häufiger offensiv begründet und gerechtfertigt. Und sie wurde durch die Bilder von Guantanamo und Abu Ghuraib vor aller Augen in Szene gesetzt. In dieser Normalisierung von Folter und Krieg sehen wir eine grundlegende Verschiebung im Koordinatensystem der bürgerlich-imperialistischen Demokratie. Und die damit einhergehende autoritäre Strukturierung der Gesellschaft ist aus unserer Sicht eine ebenso grundlegend zu bekämpfende Entwicklung. Schon in unseren Aktivitäten zum und nach dem Prozess gegen den Frankfurter Vizepolizeipräsidenten Daschner legten wir deshalb einen Augenmerk auf diejenigen, die ihm als Lautsprecher zur Seite sprangen, Folter öffentlich rechtfertigten und ihre Anwendung befürworteten.


Von der Ausnahme zur Regel


Von der Ausnahme zur Regel, oder wie SPD-Juristen schon in den 1970er Jahren formulierten, den Ausnahmezustand justizförmig zu machen, das hat in Deutschland eine besondere Tradition. Vom Kaiserreich bis heute: Zur Staatsdoktrin hierzulande gehört nun mal die Verrechtlichung sowohl der Klassenherrschaft wie des Klassenkampfs, denn der bürgerliche Frieden war und ist nach innen wie außen immer ein bewaffneter Frieden. Dieses Konstrukt in Vollzug zu setzen und den dauerhaften Ausnahmezustand zu normalisieren und damit handhabbar für die politische Klasse wie für ihre Verwaltung zu machen, obliegt den Juristen.
Nicht zufällig verwenden wir mit “Denn sie wissen, was sie tun” den Titel eines Buches, das sich genau mit der machterhaltenden Perfidie deutscher Juristen auseinandersetzt. Ernst Ottwalt, Mitbegründer des Genres des “Tatsachen-Romans”, beschreibt in dieser Montage aus Dokumentation und fiktionalen Episoden eine Richter-Karriere in der Weimarer Republik, die keinen Zweifel daran lässt, dass diese Sorte Schreibtischtäter weiß, was sie tut.
“Was mir gefällt”, schrieb Kurt Tucholsky in einer Buchbesprechung zu Ernst Ottwalts Justizroman, “ist: dieser Jurist ist kein schwarzes Schwein, kein wilder Berserker, kein besonders bösartiger Mensch - er ist das Produkt von Erziehung, Kaste und System. Es ist gut gesehen, wie die Rädchen des großen Unrechtgetriebes ineinandergreifen, Akte auf Akte, Paragraph auf Paragraph, die Verantwortung ist in unendlich winzige Teile zerteilt, und zum Schluss ist es keiner gewesen”.


Gesetzlich geregeltes Unrecht


Im Dezember 1945 führten die Alliierten mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit ein. Nur mit Hilfe dieses völlig neuen Straftatbestandes war es ihnen möglich in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen NS-Täter anzuklagen. Es stellte sich nämlich heraus, dass im faschistischen Deutschland die Zerschlagung der Arbeiter/innenbewegung, die Schaffung von Konzentrationslagern, die Beraubung und Arisierung jüdischen Besitzes, die Ermordung zehntausender Oppositioneller, die millionenfache Zwangsarbeit, selbst der Massenmord und Genozid im Rahmen der in Nazi-Deutschland herrschenden Rechtsnormen stattfand. Auch der “Führerbefehl” war dort verankert.
Die heute verwendete Formel vom “nationalsozialistischen Unrechtsstaat” ist nicht präzise und verkennt die Doppelnatur des nationalsozialistischen Staates als bis ins Letzte geordneter und verrechtlichter Staat des permanenten Ausnahmezustands. Selbst die scheinbar purste Willkür hatte von hochrangigen Juristen formulierte Ausführungsbestimmungen und ihr lagen Gesetze und Verordnungen zu Grunde, die nicht von Nazi-Schlägern sondern von akademisch graduierten Beamten ersonnen wurden. Niemand konnte sich so gut raffinierte Gemeinheiten einfallen lassen, um den ausgemachten (Volks-) Feind systematisch zu erniedrigen, auszurauben und zu zerstören, wie deutsche Juristen und Bürokraten. Was in der wissenschaftlichen Literatur oft als Gegensatz von Normen- und Maßnahmenstaat bzw. Recht- und Unrechtsstaat diskutiert wird, bildet in Deutschland allerdings schon lange ein komplettes Ganzes. “Im Hintergrund des Normenstaates lauert ständig ein Vorbehalt: Die Erwägung der politischen Zweckmäßigkeit. Dieser politische Vorbehalt gilt für das gesamte deutsche Recht”, schrieb Ernst Fraenkel in seiner Analyse von Recht und Justiz im Nationalsozialismus (“Der Doppelstaat”, 1940).
Die Feindmarkierung als wesentliches Kriterium von Recht als Herrschaftsinstrument durchzieht die deutsche Geschichte: Von Hegel bis Carl Schmitt, von Roland Freisler bis zu den heutigen Befürwortern eines an keine Rechtsgarantien gebundenen “Feindstrafrechts”. So war die faschistische Spielart des verrechtlichten Ausnahmezustands eine Variation dessen, dass in Deutschland Verwaltung, Recht und Rechtsprechung unter den Aspekt des zu bekämpfenden Feindes gestellt sind. Das aber begründete Bismarck schon mit dem “Sozialistengesetz” und fand nach 1945 in der Konstruktion der “wehrhaften Demokratie” genauso seine Fortsetzung, wie in der Schaffung der spezifischen Staatsschutzjustiz gegen die RAF und in den “Anti-Terror”-Gesetzen nach 2001.


Unterschied sich deutsche und amerikanische Rechtstradition (früher) markant in der verfassungsmäßigen Begrenzung der staatlichen Gewalt im Ausnahmezustand, hat sich dies durch die US-amerikanische Definition des “Rechtlosen” im Zuge des “Enduring Freedom”-Kriegs nach 2001 endgültig aufgelöst. Der vom NS-Staatsrechtler und ideologischen Mitbegründer des “Führerstaates” Carl Schmitt geprägte Satz “Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet”, ist für die Administratoren des aktuellen Kreuzzuges gegen die “Feinde der Freiheit” nach wie vor Leitsatz.
Dabei geht es nicht um Gleichsetzungen oder die Behauptung von Analogien. Uns interessiert hier lediglich die nicht zufällige Hingabe und Bereitschaft von Juristen, Verbrechen, Mord und Folter systematisch in den Zustand der Rechtlichkeit zu versetzen und ihnen gegen alle ethischen, moralischen und naturrechtlichen Skrupel Legitimation zu verschaffen. Willkür und Folter werden von ihnen nicht erfunden, aber als staatliches Handeln ermöglicht. Die Differenz zwischen einer außer Rand und Band geratenen Mörderbande und dem staatlich organisierten Terror ist, dass die letzteren immer im Recht sind. Die Präzision der Sprache und die Spitzfindigkeit, wann etwas zum Beispiel als Folter oder lediglich als verschärfte Verhörmethoden zu gelten hat oder ihre rechtsstaatliche Einengung, um sie real auszuweiten, macht so deutlich wie kaum etwas anderes, dass sie wissen, was sie tun. Auch deswegen gilt der Satz: Wer Folter befürwortet, foltert mit.


Was damals Recht war, kann heute kein Unrecht sein


“Die Gesetze, die damals galten, waren damals verbindlich für die Gerichte”, urteilte 1950 das Schwurgericht Kassel. Deswegen wurden nationalsozialistische Täter in Hunderten Prozessen freigesprochen oder nur zu geringen Strafen verurteilt. Getreu dem Motto: “Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein”. Diese von der bundesdeutschen Justiz betriebene Entlastung der beamteten Täter, bezog sich nicht etwa nur auf “kleine Fische”, sondern (er)fand selbst für Massenmörder noch entlastende Argumente. Es waren bundesdeutsche Gerichte, die es fertig brachten, einen Herrschaftsapparat, in dem Zehntausende Beamte die Unterdrückungs-, Kriegs- und Völkermordmaschinerie aktiv und ideologisch überzeugt betrieben, auf einen kleinen Kreis um Hitler zu reduzieren. Alle anderen waren maximal “Gehilfen”. Als Beihilfe galten unter anderem: die Organisation von Massenmordaktionen der Einsatzgruppen, die Leitung von Konzentrations- und Vernichtungslagern, das Auslöschen “lebensunwerten Lebens”. All diesen Tätern wurde dann auch noch ein “Befehlsnotstand”, ein “Verbotsirrtum” oder eben “fehlendes Unrechtsbewusstsein” zu Gute gehalten.
Man muss froh sein, dass Roland Freisler, Staatssekretär im Justizministerium und Vorsitzender Richter am Volksgerichtshof, von einer britischen Fliegerbombe im Amt getötet wurde; seine Kollegen hätten tausend Gründe gefunden, ihn gar nicht erst anzuklagen oder ihn einfach freizusprechen, wie sie es mit dem Richter am Volksgerichtshof Hans-Joachim Rehse taten. Der war wegen der Unterzeichnung von mehr als einhundert Todesurteilen gegen Regimegegner angeklagt worden. Hätte er nach 1945 in CDU oder SPD Karriere machen wollen, wären diese angeordneten Morde wie auch bei Marinerichter Filbinger kein Hinderungsgrund gewesen, höchste Ämter zu erreichen.
Völlig zu Recht muss man für die Bundesrepublik von einer bruchlosen Kontinuität und gelungenen Überführung des faschistischen Machtapparats in die bundesrepublikanische Bürokratie sprechen. Genauer: In der westdeutschen Polizei, den Geheimdiensten und der Justiz waren 1951 sogar mehr SS- und NSDAP-Mitglieder beschäftigt als vor 1945 (weil alle “aus dem Osten” vertriebenen oder geflohenen NS-Beamten Amt und Stellung im Westen erhielten). Personell war der NS-Justizapparat 1949 fast vollständig wiederhergestellt und kein einziger NS-Jurist wurde von einem bundesdeutschen Gericht verurteilt. Ehemalige Nazirichter sprachen Recht in eigener Sache; ehemalige NS-Juristen formulierten als Ministerialjuristen der Bonner Republik die Amnestiegesetze für die eigenen Verbrechen.
Auf Initiative des ersten Präsidenten des Bundesgerichtshofes, Hermann Weinkauff (seit 1933 NSDAP-Mitglied), der das Kontrollratsgesetz Nr. 10 (KRG 10) für einen zu eliminierenden Fremdkörper im “deutschen Rechtsdenken” hielt, bemühte sich Deutschland bei den Alliierten um eine Rücknahme der Ermächtigung für das KRG 10. Vollendet wurde dieses neben verschiedenen Amnestiegesetzen damit, dass 1951 die Bundesregierung beschloss, den Straftatbestand “Verbrechen gegen die Menschlichkeit”, der über das KRG 10 Einzug auch in die Europäische Menschenrechtskonvention gefunden hatte, nicht ins bundesdeutsches Gesetzeswerk zu übernehmen.
Erst als auch der letzte NS-Beamte und Nazi-Jurist aus dem Staatsdienst ausgeschieden und in Rente war, hob der Bundestag Nazi-Urteile als Unrecht auf. Da tat es niemandem mehr weh - während es für Zehntausende Opfer und Hinterbliebene jahrzehntelang fortgesetzte Benachteiligung und Drangsalierung zur Folge hatte.
Mit dem gleichen Eifer, mit dem die ehemaligen Nazi-Juristen sich ins Zeug legten, um zu verhindern, dass ihre bürokratisch perfektionierte Verrechtlichung nationalsozialistischer Herrschaft, nachträglich als Verbrechen und Mittäterschaft festgestellt werden konnte, ersannen sie perfide Tricks, um mittels und nach dem KPD-Verbot, Tausende von Kommunist/innen und andere Oppositionelle zu verfolgen und zu terrorisieren.
Während 1953 lediglich 123 NS-Täter verurteilt wurden, gab es 1.655 Strafurteile gegen Kommunist/innen, denen kaum was anderes vorzuwerfen war, als dass sie Kommunist/innen waren, was seit 1951 wieder wie vor und in der NS-Zeit Hochverrat, Landesverrat oder allgemein Staatsgefährdung war. 1951 wurde die FDJ, 1956 die KPD verboten, während zwei Jahre später die letzten Verurteilten aus den Nürnberger Nachkriegsprozessen freigelassen wurden.
Bis 1998 - also innerhalb von 49 Jahren - wurden rund 106.000 Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen eingeleitet. Nur 6.494 endeten mit einem Strafurteil. Heute geht man davon aus, dass allein die Zahl der unmittelbar am Holocaust beteiligten Täter bei weit über einer viertel Million liegt; dazu kommen Zehntausende weitere politische Mordtaten und Zehntausende Kriegsverbrechen. Dagegen gab es in der Zeit von 1951 bis 1968 - also innerhalb von 17 Jahren - staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen mehr als 200.000 linksoppositionell verorteter Menschen wegen Widerstand gegen die Remilitarisierung Westdeutschlands, wegen Mitgliedschaft oder Unterstützung der KPD oder Kontakte in die DDR. In dieser Zeit wurden mindestens 6.758 Personen verurteilt. Nach dem KPD-Verbot am 17. August 1956 wurden bis weit in die 1960er Jahre jährlich rund 500 Personen verurteilt. Bei diesen Zahlen muss man wissen, dass die illegale KPD vielleicht lediglich ca. 6.000 Mitglieder hatte.
Das, was hier die bruchlos in die BRD überführte NS-Justiz an den Tag legte, findet sich unisono in den Gerichtsverfahren wieder, die überlebende Nazi-Opfer anstrengen mussten, um einige D-Mark Entschädigung zu erhalten. Diejenigen, die sie ins KZs einwiesen, die ihre Deportation in Vernichtungslager angeordnet hatten usw. entschieden darüber, ob sie eine „relevante“ Verfolgung erlitten hatten. Gerade denjenigen aus der Arbeiter/innenklasse wurde vorgerechnet, dass sie auch ohne die Nazis nicht viel gehabt hätten. Gleichzeitig aber wurde bei der Rentenberechnung z.B. der Witwe von Reinhard Heydrich die möglichen Karrieresprünge und entsprechenden Gehaltssteigerungen ihres Mannes berücksichtigt, wenn ihn nicht tschechische Widerstandskämpfer umgebracht hätten. Kommunist/innen traf diese bürokratisch-juristische Drangsalierung besonders: ihnen wurden Wiedergutmachungsleistungen aus NS-Verfolgung überhaupt gestrichen, sie wurden sogar teilweise gezwungen bereits erhaltene zurückzuzahlen.
Die Geschichte der Kommunist/innen-Verfolgung in Westdeutschland ist nicht zuletzt eine Geschichte der gemeinen Rachsucht von Schreibtischtätern in Roben. Eine Geschichte, die immer wieder fortgeschrieben wird. Als 1990 nach dem Ende der DDR die massenhafte politisch bestimmte Entlassung des SED-Personals anstand und die dann gesamtdeutsche Justiz sich der Praktiken des DDR-Staatsapparates strafprozessual annahm, wurde das damit begründet, dass man „aus den Fehlern nach 1945 gelernt habe“. Nochmals wurde also die aktive Inschutznahme von Naziverbrechern funktionalisiert und komplettiert durch die Relativierung und Verharmlosung des Nazi-Faschismus, die in der Gleichsetzung von Faschismus und DDR-Sozialismus liegt. Im ganz realen Prozedere und Ablauf des Umgangs mit den Funktionär/innen der DDR wird ersichtlich, welche „historische Belastung“ in Deutschland schwerer wiegt.


"Rechtsstaatlich einwandfrei" - der Staatsschutzstaat


Die Reaktion des Staates auf die emanzipatorische Revolte nach 1968, auch auf das Entstehen der „neuen Linken“ mit militanten und bewaffneten Organisationen, war die völlige Restrukturierung des polizeilichen wie justiziellen Repressionsapparates im Sinne einer erneuerten Doktrin der „wehrhaften Demokratie“. Auch darin spielte die Rechtsförmigkeit der Unterdrückung eine zentrale Rolle. Der Anteil der eindeutig illegalen, also durch die herrschenden Gesetze und Vorschriften nicht gedeckten Maßnahmen, musste reduziert werden. Einerseits wurde der Unterdrückungsapparat modernisiert, aufgerüstet und ausgeweitet. Andererseits wurde eine in mehreren Dutzend Gesetzen und Hunderten Ausführungsbestimmungen gesetzte Sondergesetzgebung geschaffen. Das wurde als „Lex RAF“ bekannt und hat fast keinen Bereich des Strafgesetzbuches, der Strafprozessordnung, der Anwaltsordnung, der Polizeigesetze, der Strafvollzugsordnung usw. usf. unangetastet gelassen. Wo das nicht reichte, wurde der „übergesetzliche Notstand“ eingeführt. Dies bedeutete nicht nur eine quantitative Veränderung des Verhältnisses von Reform und Repression im Rahmen der bürgerlichen Demokratie. Geschaffen wurde der Staatsschutzstaat, ein „Staat der permanenten Konterrevolution“, oder - harmloser - der Sicherheitsstaat, der bis heute fortbesteht.
Nur beispielhaft soll hier erwähnt werden, wie in diesem Rahmen die Zerstörung von gefangenen Gegner/innen bis ins Kleinste von Richtern, Staatsanwälten, Gefängnisdirektoren und Gefängnisärzten diskutiert und „justizförmig“ gemacht wurde. Die Isolationsfolter wurde bereits 1975 durch das BGH legitimiert (gegen „diese“ Gefangene durchaus angemessen); an der Frage von Hungerstreik und Zwangsernährung wurde gar eine juristisch begründete und „rechtsstaatlich einwandfreie“ Folter-Ethik begründet, die all das erörtert, berücksichtigt und regelt, was auch heute in den immer noch geltenden Direktiven der US-Administration unter Bush zum Umgang mit „feindlichen Kombattanten“ die juristische und ebenso „rechtsstaatliche einwandfreie“ Grundlage des weltweiten Foltersystems ist.


Wo steht die Linke


Tatsache ist: Der “Krieg gegen den Terror” hat Spuren hinterlassen. Es sind nicht “nur” die vielen Toten, die bis heute in den Meldungen der Medien als Kollateralschäden verbucht werden und für die gilt, was im Kolonialverhältnis für die Metropolengesellschaften schon immer selbstverständlich war: Weißes Leben ist mehr wert. Es sind auch die verheerenden Auswirkungen auf die sozialen und politischen Prozesse in den vom Krieg direkt betroffenen Gesellschaften. Statt Aufbau und Schutz sind die Konsequenzen der NATO-Kriegspolitik in Afghanistan nach gründlicher Vorarbeit durch Sowjetunion und Bürgerkrieg Demoralisierung, Militarisierung und eine mehr als mangelhafte Ökonomie aufgrund fehlender Infrastruktur, Korruption und der Dominanz des Krieges.
Und was für Afghanistan gilt, gilt genauso für viele andere Gegenden des Südens. Die zivilisatorischen Segnungen des Kapitalismus kamen schon immer zuerst einmal den privilegierten Klassen des Nordens zugute, während der Rest bis heute vor allem mit seiner zerstörerischen Gewalt konfrontiert ist. Das “schöne” und für viele auch attraktive Leben hier (digitale Kommunikation, globale Mobilität, gepflegter Konsum), hat nach wie vor seine Kehrseite in Strukturen der Rechtlosigkeit und sozialen Ausgrenzung dort. Es ist diese Verbindung, die wir mit unserer Kampagne gegen Folter und Lagerhaft ziehen wollen. Gegen die Illusion eines Nebeneinanders von Krieg und gutem Leben.
Unsere Kampagne zielt auch auf die typisch linke Ignoranz, die Folter und Menschenrechtsverletzungen gewissermaßen zur Ressortfrage erklärt und in die Zuständigkeit von Menschenrechtsgruppen wie Amnesty international legt. Zweifelsohne hat der “Krieg gegen den Terror” neue Maßstäbe gesetzt. Durch ihn wurden Dinge möglich, die vor ein paar Jahren noch auf breiteste Ablehnung gestoßen wären. Am deutlichsten wurde das für uns an der Frage der Folter und der Selbstverständlichkeit mit der heute das Recht zu foltern eingefordert wird. “Folter verdirbt die gesamte soziale Struktur”, schrieb der chilenische Autor Ariel Dorfman. “Folter verlangt, dass wir uns selbst belügen und wegsehen von dem, was getan wird,  gar nicht so weit entfernt von dem Ort, an dem wir ein Buch lesen, Musik hören oder Morgengymnastik machen. Folter zwingt uns dazu taub, blind und stumm zu sein.”
Dementsprechend hat der “Krieg gegen den Terror” auch hier in Gesellschaft und Politik Spuren hinterlassen. Und er konfrontiert die Linke mit ihren eigenen Schwächen. Einerseits greifen die alten Parolen und Analysen nicht mehr, weil es zum Beispiel in Afghanistan in erster Linie weder um Bodenschätze noch um Kapitalexport geht, sondern um  imperialistische Sicherheitspolitik (Stichwort „politische Stabilisierung“) angesichts der vielfältigen und umfassenden Krise des Kapitalverhältnisses. Andererseits haben sich Teile  der radikalen Linken mit dem globalen Krieg faktisch arrangiert. Schließlich bedroht ein totalitärer Feind in Gestalt der islamischen Gotteskrieger die westliche Zivilisation. Und so findet man sich schlimmstenfalls in einer Front mit konservativen Intellektuellen, Künstlern und Verfassungsschützern wieder, die zwar Demokratie, Freiheit und Aufklärung sagen, in letzter Konsequenz aber ihre Metropolenprivilegien meinen.
Doch emanzipatorische Politik in den Zentren lässt sich überhaupt nicht jenseits der globalen Verwerfungen entwickeln. Wer das anders denkt, hat schon verloren. Auch eine neu zu bestimmende revolutionäre Politik muss von den weltweiten Widersprüchen ausgehen. Im Zentrum der Macht bedeutet das, um wenigstens ein paar Kriterien zu nennen: Keine Komplizenschaft mit ihr, Delegitimierung von NATO und Bundeswehr und kompromisslose Positionierung gegen Krieg und Folter. Und es bedeutet, dass der auf Abschreckung und Kaltstellen angelegte globale Ausnahmezustand immer wieder durchbrochen werden muss: Von Seattle bis Heiligendamm, von Athen bis zu den Revolten der Flüchtlinge, von den kommunistischen Guerillas in Indien bis zu den Bergen Kurdistans. Wessen Welt ist die Welt? Diese alte kommunistische Frage steht nach wie vor auf der Tagesordnung.


Initiative Libertad!
Oktober 2010


Kontakt: Hans-Peter Kartenberg, Libertad!, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin

Internet:www.libertad.de. Email: kampagne (at) libertad.de



Anmerkung:
Der Justiz-Roman „Denn sie wissen, was sie tun” erschien 1932 im Malik-Verlag. In den 1970er Jahren erschienen in Westdeutschland und Westberlin einige Raubdrucke bzw. Reprints in kleinen linken Verlagen. Unseres Wissens gab es keine Wiederauflage in der DDR. Dort wird es wohl daran gelegen haben, dass Ottwalt zwar engagierter Autor proletarisch-revolutionärer Literatur war, aber sein avantgardistisches Konzept eines „Tatsachen-Roman“ als  Zusammenschnitt fiktionaler Passagen und authentischer Materialien, innerhalb der kommunistischen Literaturbewegung auf heftige Kritik stieß (z.B. durch den was Literaturkritik betraf sehr traditionalistischen Georg Lukács). Noch ausschlaggebender dürfte aber die Unfähigkeit gewesen sein, mit den Verbrechen umzugehen, die im Namen des Kommunismus begangen wurden: Der Kommunist Ernst Ottwalt wurde nach seiner Flucht vor den Nazis in die Sowjetunion, während der stalinistischen „Säuberungen“ in ein sibirisches Lager verschleppt und kam dort unter bis heute nicht geklärten Umständen 1942 zu Tode. Erst Ende der 1950er Jahre wurde sein Verschwinden und sein Tod überhaupt eingestanden.
Wer durch unseren Bezug auf sein Buch Interesse gefunden hat, es zu lesen, hat heute zumindest die Möglichkeit es im „Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik“ (http://nemesis.marxists.org) digital zu finden. Dieses Archiv sozialistischer Literatur und sein Anliegen, die schwer erhältlichen sozialistischen Schriften der Vergangenheit einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen, können wir allen Interessierten nur empfehlen.


Die Materialien der Kampagne “Denn sie wissen, was sie tun” (Plakat, Broschüre, Aufkleber etc) wurden ohne staatliche, kirchliche oder Stiftungsgelder produziert. Spenden erwünscht.
Konto: Libertad!,

Nr: 8020069300,
GLS Gemeinschaftsbank eG (BLZ: 43060967),
Stichwort: “Juristen”
Bestellungen der Materialien:

Libertad!, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin

Email: versand (at) libertad.de,

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