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Donnerstag, 26.12.2024

Reaktionäre Geschichtspolitik

Es können keine Illusionen darüber aufkommen, so politisch instruiert die justiziellen Verfahren gegen die RAF in den 70er-Jahren und der Folgezeit durchgeführt worden sind, so sind auch die gegenwärtigen zu lesen. Das rechtsförmige Verfahren zur Verwirklichung von politischen Zielen – ein Klassiker.

Die Kampagne unter der Flagge von „Aufklärung“ wurde 2007 gestartet als sich abzeichnete, der Staat muss die letzten verbliebenen Gefangenen aus der RAF aus der Haft entlassen. Es war kurz vor der Haftentlassung von Brigitte Mohnhaupt und als sich parallel schon abzeichnete, Christian Klar könnte fast zeitgleich, wenn aber nicht über eine Begnadigung, dann wahrscheinlich anderthalb Jahre später entlassen werden.

Damit zeichnete sich ab, dass ein für die Herrschenden seit dreieinhalb Jahrzehnten zum Alltag, zur Gewohnheit gewordener Zustand sich auflösen würde: immer ein paar Geiseln zu haben, die zumindest auf der ideologischen Ebene der Auseinandersetzung in den Manövern der Herrschenden durchgehend einen wichtigen Platz hatten. Plötzlich wären keine Namen mehr zur Verfügung für „Zellensteuerung“, für Hetze aller Art oder für das wichtige ideologische Muster, dass nur wegen der Gefangenen gekämpft würde, es wären keine Gefangenen mehr da, aus deren Reihen hin und wieder Zusammengebrochene präsentiert werden könnten, es wären keine Objekte für „Kinkelinitiativen“* oder sonstige ideologische Profilierungen von Parteigängern der herrschenden Ordnung mehr vorhanden. Was für ein Phantomschmerz damit in Aussicht!

Und das sollte passieren, ohne dass es zuvor gelungen war, und zwar auch nicht nach der sog. Wende 1989, auch nicht nach der Selbstauflösung der RAF 1998, die Ausstrahlung, die Geschichtsmächtigkeit der RAF-Zeit aus der Welt zu schaffen?

Und das sollte zweitens passieren, als am Horizont längst die neue Krisenhaftigkeit und die fundamentale Fragwürdigkeit der Profitordnung sich ankündigte und sich zeigte? In einer Phase als die europäische Linke noch ihre Wunden leckte und ihre Augen durch die Depressionen enttäuschter Hoffnungen blind und eher nach Innen blickten, titelte die FAZ bereits: „Eisvögel der Revolution ... Die Zeichen stehen auf Sturm: Über die neue Lust am Aufstand ... Hören wir die Signale?“ (Mai 2005!) Die analytischen Höhen des Kapitals in Deutschland sprachen schon davon, dass zum ersten mal nach dem 2. Weltkrieg ein massenhafter – im Gegensatz zum minoritären während der 60er/70er/80er-Jahre – Entzug von Loyalitäten in der Bevölkerung droht? Während die Oberfläche der politischen Diskussionen noch von den Argumenten der Sachzwänge für brutale ökonomische Massnahmen gegen gesellschaftlich Schwache bestimmt war, ging es in tieferen Strömen schon weiter mit geschichtlichen Prozessen, die Alternativen bieten könnten.

Wer hat die oben angesprochene Kampagne in vorderster Front präsentiert oder initiiert? Man erinnere sich an die ARD-Sendung Ende April 2007 mit einer gespenstischen Versammlung von vier Personen auf einer Bühne, darunter Stefan Aust und Boock. Wenn diese Personen auftauchen, weiss man, dass genau eine Tür weiter VS und andere Agenturen der ideologischen Herrschaftsicherung sitzen. Aust kann man in seinem reaktionären Ehrgeiz gar nicht überschätzen. Am meisten bekannt dafür, dass er den „Spiegel“ in die nationalliberale und ökonomisch neoliberale Epoche geführt hat (deren Gründungsakt übrigens der CIA-Putsch gegen die Allende-Regierung in Chile 1973 war), ist er schon lange bei den Herrschenden geschätztes Trüffelschwein für schmutzige ideologische Manöver in der RAF-Rezeption. Seine Biografie sieht er als sein Schicksal, man sieht ihn bei diesem Thema manisch beschäftigt. Bis hin auf die Ebene internationaler Antiterrorismus-Konferenzen wie Ende Juni letzten Jahres am Deutschen Historischen Institut in Washington - Stefan Aust als „Fachmann“ für die RAF. Und Boock, die auf Lebzeiten eingekaufte Sprechpuppe, der seinen Gesichtsausdruck, den einzigen ihm verfügbaren, in die Kamera zu hängen und das jeweils Zweckmässige von sich zu geben hat. Während in den Medien gerade die moralische Verdammung gegen die ehemaligen RAF-Aktiven, die schweigen, verhängt wurde, hat genau diese neue Kampagne ein skrupelloses Spiel mit der Psyche eines hinterbliebenen Sohnes angefangen. Es schien ihnen nicht schwer, Michael Buback auf die Rolle zu setzen, dass es etwas Neues zu ermitteln geben könnte, und das ist ja auch aufgegangen.

Bisher springt das Publikum auf diesen Zug mit drauf. Dabei werden alle, die darauf anspringen, es ginge überhaupt um Enthüllungen, um Aufklärung – der Geschichte um keinen Schritt näher kommen. Die kriminalistische Show ist überhaupt nur im Anschlag, weil es ein Publikum dafür gibt, das einen Rückfall in Obrigkeitshörigkeit vollbracht hat. Die Frage nach den Motiven der Auslösung der Kampagne, die jetzt schon mehr als zwei Jahre anhält, wird überhaupt nicht gestellt, es wird nicht danach gefragt, eher noch wird „Irrationalität“ angenommen. Schon ein Kommentar aus der Süddeutschen Zeitung vom April 2007 könnte aber ein Stück weiterhelfen. Sie spricht von einem „Fall angewandter Geschichtspolitik: von rückwirkender Verwandlung des Politischen ins Persönliche“. Und der Freitag kann es in seiner Ausgabe 15/2010 gar nicht mehr erwarten: „Und wenn einst im Untergrund agierende militante Politaktivisten sich … (heute) … auf kleinkriminellem Niveau gegenseitig anschwärzen, schwindet, so das Kalkül, womöglich auch die Aura der RAF.“

Das Thema der heutigen Zeit auf der politischen Ebene ist die persönliche Integrität. In den Zeiten der Vor-Katastrophe, in den Zeiten der Suche nach Auswegen und Alternativen, in den Zeiten des politischen und moralischen Bankrotts des herrschenden politischen Personals erleben wir lediglich den aktuellen Anlauf, ein Szenario gegen das Moment in der zeitgenössischen Geschichte zu schaffen, das sich in der Erinnerung der Bevölkerung mit politischer Überzeugung und Integrität verbindet. Eben alles das, was den Vertretern der für die meisten Menschen bedrückenden und hoffnungslosen alten Ordnung fehlt. Eine Leserzuschrift zu dem Beitrag im Freitag drückt es ganz hellsichtig aus: „Es geht nicht nur darum die 'Verwirrung' der Täter aus damaliger Zeit offenzulegen - es geht mehr darum die Verwirrung der Bevölkerung in Gegenwart und Zukunft sicherzustellen. Auf keinen Fall darf es später mal eine Erinnerung an die RAF geben, welche diese als Vorbild für Notstand-Abwehr / Widerstand gegen orwell'schen Überwachungsstaat erscheinen läßt. Anders kann ich mir die Energie zur Aufrechterhaltung der RAF-Justizerei nicht erklären.“

Die RAF ist aber nicht geschichtsmächtig geworden durch Interpretationen von Medien oder durch „Aura“ und „Mythen“, sondern durch ihre aktive Zeit, und das lässt sich im Nachhinein nicht wirklich weghistorisieren und relativiert sich nicht einmal durch persönliche Schwächen einzelner ehemaliger Aktiver, an denen schwere Zeiten und manches persönliche Scheitern genagt haben. Durch reaktionäre Kampagnen senkt sich nur das Niveau einer geschichtlichen Analyse früherer Geschehnisse. Und leider lässt sich auch schon jetzt vorauszusagen, dass das propagandistische Vorhaben neuer Strafverfahren und die Flut von Vorladungen ehemaliger RAF-Mitglieder und Freundeskreisen, verbunden mit Androhungen und Vollstreckung von Ordnungsstrafen und Beugehaft wegen der Aussageverweigerung, zwar im Sinne der Initiatoren keinen Erfolg bringen wird, „nur“ den einen oder anderen, der viele Jahre Knast hinter sich gebracht und danach einen Boden unter den Füssen gesucht hat, in diesem Rummel um seine Wohnung, um sein Geld und eventuell um seine Arbeitsstelle gebracht werden wird.

P.S. In seiner Nummer 16/2009 veröffentlichte der „Spiegel“ den Fund der „Grundsätze der Desinformation“, wie sie in BKA und den anderen Diensten schon zu Beginn der 70er-Jahre entwickelt worden sind. Es bleibt eine krasse Kluft, dass nach dem Lesen dieses Artikels niemand zumindest in den linken Medien die Linien zu den aktuellen Geschehnisse gezogen hat. Die Schläfrigkeit ist beachtlich.

Monika Ertl

April 2010

*Eine im Januar 1992 vom damaligen Bundesjustizminister vorgestellte Initiative, die mit der Absicht konzipiert war, das Gefangenenkollektiv zu spalten.


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