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Freitag, 22.11.2024

"Der Gewaltausbruch in Athen ist verständlich"

In einem Interview geht Giorgos Maniatis vom griechischen "Netzwerk für politische und soziale Rechte" auf die andauernde Erhebung in Griechenland ein.

Der Gewaltausbruch in Athen ist verständlich«
Die Proteste in Griechenland könnten eine ganze Generation politisieren. Ein Gespräch mit Giorgos Maniatis

Interview: Heike Schrader, Athen
jw 17.12.2008

Giorgos Maniatis ist Mitglied der Organisation »Netzwerk für politische und soziale Rechte«.

Militanz ist in Griechenland kein ungewöhnliches Phänomen. War damit zu rechnen, daß es nach der Ermordung von Alexis Grigoro­poulos durch die Polizei zu einem solchen Aufstand kommen würde?

Die Wahrheit ist, daß niemand etwas Derartiges erwartet hat. Natürlich war es klar, daß es Reaktionen geben würde. Aber diese Form massenhafter Wut und vor allem diesen Aufstand der Schüler, der Jugend hat niemand vorausgesehen.

Sind die tödlichen Schüsse das Werk eines Durchgeknallten? Welche Rolle spielt die Polizei in Griechenland?

In den letzten Jahren wurde die Repression verschärft, besonders gegenüber den am System Zweifelnden und gegenüber Migranten und Flüchtlingen. In allen Zentren in den großen Städten herrscht hohe Polizeipräsenz. Wenn man durch Athen geht, fühlt man sich wie in einer besetzten Stadt. Die Polizei besetzt den öffentlichen Raum und kontrolliert jede Regung. Dabei agiert sie selbst völlig unkontrolliert. Bei der allgegenwärtigen Polizeipräsenz in der Form von Einsatzkommandos auf den Straßen war es nur eine Frage der Zeit, bis es einen Toten geben würde.

Was treibt die Tausenden von Jugendlichen auf die Straße? Allein die Tatsache, daß einer der Ihren erschossen wurde?

Es gibt sicherlich eine große Wut auf die Polizei. Viele Jugendliche haben deren Willkür schon am eigenen Leib erfahren. Gleichzeitig sieht die Jugend keine Perspektive, sowohl im Bildungsbereich, als auch, was die eigene Zukunft angeht. Die Jungendarbeitslosigkeit in Griechenland ist außerordentlich hoch, die jungen Menschen haben keine Perspektiven, keine öffentliche Stimme. Das griechische Bildungssystem ist sehr hart, hat ein hohes Lernpensum, geprägt von sterilem Faktenpauken, ohne die Entwicklung von kreativer Bildung.

In einer Art Kettenreaktion haben die Ereignisse eine große Zahl junger Menschen mobilisiert, die sich zu Wort melden. Viele von ihnen sind vielleicht zum ersten Mal auf die Straße gegangen, haben zum ersten Mal der Polizei gegenübergestanden. Jetzt sieht es so aus, als würden sie bleiben, weitermachen, als würde die Bewegung genau von diesen 16- bis 18jährigen getragen.

Die Bilder in den Medien aber werden nicht von den demonstrierenden Schülern, sondern von Gewalt geprägt. Sind das zwei Seiten derselbem Medaille oder zwei getrennte Phänomene?

Das, was wir in den letzten Tagen in Athen erlebt haben, sind in ihren Ausmaßen wohl die intensivsten und gewaltreichsten Ereignisse seit dem Ende der Militärdiktatur 1974. Die meisten Angriffe erfolgten gezielt, gegen Banken, multinationale Firmen, große Kaufhäuser. In kleinerem Ausmaß gab es auch Angriffe auf andere Ziele. Von besonderer Symbolik war das Abbrennen des riesigen Weihnachtsbaumes auf dem Syntagma-Platz. Das weihnachtliche Konsumklima wurde zerstört.

Sie reden von Gewinn und Verlust, wir von Menschenleben. Diese Parole wurde in den letzten Tagen viel zitiert. Auch wenn ich persönlich nicht mit dem Ausmaß der Gewalt einverstanden bin und Formen blinder Gewalt nicht für politisch sinnvoll halte, halte ich sie, nach dem, was geschehen ist, für verständlich. Es wird von seiten der meisten Parlamentsparteien und der Medien versucht, die Bewegung in zwei Teile zu spalten. In eine Minderheit, die für die Randale verantwortlich ist, und eine Mehrheit, die benutzt, oder der diese Militanz übergestülpt wird. Die Ereignisse in Athen und in ganz Griechenland zeigen, daß diese Taktik diesmal nicht aufgeht. Es sind Schüler, die täglich Polizeistationen blockieren und mit den Sondereinheiten konfrontiert sind.

Wie wird es weitergehen?

Sicherlich wird es bis Weihnachten keinen Unterricht mehr geben. Statt dessen weitere Aktionen. Hier politisiert sich eine ganze Generation oder fordert zum ersten Mal ihre Rechte ein. Diese Bewegung ist ein Pfand, eine Chance, die, wenn wir sie ernst nehmen, eine Generation heranzieht, die es vielleicht weiter bringen wird als viele vor ihr. Eine offensive Generation, kraftvoll, dynamisch, politisiert und vor allem mit Würde. Diese Jugendlichen, die hier ihre Köpfe gegenüber den Sondereinheiten heben, haben jetzt schon etwas Wichtiges erobert.


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