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Mittwoch, 18.12.2024

Fünf Jahre in Guantanamo

Murat Kurnaz berichtet in seinem Buch „Fünf Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantanamo” eindrücklich über seine Verhaftung, sein Aufenthalt im US-Foltergefängnis im afghanischen Kandahar und in Guantanamo, über Verhöre, Schläge, Einsatz von CS-Gas, Elektroschocks, sexuelle Demütigungen, Pfahlhängen, Waterboarding („Apfelessen”), Isolation in einem eiskalten oder heißen Blechcontainer („Kühlschrank” bzw. „Ofen”), Schlafentzug, Sauerstoffentzug in nahezu luftdichten Zellen, über Verstümmelungen und Morde.

„Man muss es erzählen”, schreibt Kurnaz, „man muss den endlosen Berichten, die sie in Guantanamo schreiben, etwas entgegensetzen. Man muss sagen: Ja, ich habe meine Decke abgeben wollen, und ich wurde trotzdem vier weitere Wochen in der Isolation gehalten. Man muss erklären, wie Abdul seine Beine und der marokkanische Kapitän seine Finger verloren haben, wie die Gefangenen in Kandahar gestorben sind. Man muss schildern, wie die Ärzte kamen, nur um zu sehen, ob man schon tot war oder die Folter noch eine Weile aushalten würde.” Wer das Buch gelesen hat, weiss: Die US-Foltergefängnisse müssen geschlossen werden.

Selbst in Guantanamo sind Kommunikation, Organisierung, individuelle und kollektive Kämpfe wie Hungerstreiks möglich. Wenn Murat Kurnaz darüber berichtet, gewinnen Leser/innen Sympathie mit den Gefangenen. Nachfolgend drei entsprechende Absätze aus dem lesenswerten Buch über Widerstand in Guantanamo.

(1) Erfahrungen aus dem ersten Hungerstreik
Plötzlich ein gequälter, langgezogener Schrei. Ich drehe mich um. Noch ein Schrei und darauf ein dritter, aber sie klingen ganz anders als die Schreie von Geprügelten, gedehnt und schaurig wie eine Totenklage. Durch den Maschendraht erkenne ich einen Wärter im Käfig eines arabischen Häftlings. Ich weiß, was passiert ist.
Wir werden täglich durchsucht. Dabei filzen sie auch den Koran. Die Wärter greifen das Buch an den Deckeln und schütteln es aus. Dieser Wärter aber muss es zu Boden geworfen haben - sonst würde der Mann nicht so schreien. Ich sehe, wie der Wärter auf etwas herumtrampelt.
Einige springen auf. Ein entsetzliches Geheul hebt an. Nach und nach geraten alle Gefangenen außer sich. «Allahu akbar!» schreien sie. «Don't do that!», brülle ich. Der Wärter trampelt immer weiter auf dem Koran herum. Es ist, als ob in einem Zoo der Blitz eingeschlagen hätte: Einige versuchen, die Türen kaputt zu treten, andere rütteln an ihnen, reißen mit bloßen Händen an den Drähten oder beißen hinein. Der Wärter bekommt Angst. Er lässt den Koran auf dem Boden liegen und rennt weg. Auch alle anderen Wärter verlassen Charly fluchtartig. Sie rennen durch die Gänge und verschanzen sich hinter dem zweiten Maschendrahtzaun.
Die Gefangenen werden immer wilder: Sie schreien und jaulen und treten gegen die Käfigdrähte und hüpfen herum wie Derwische. Manche wälzen sich auf dem Boden. Der Aufruhr greift wie ein Feuer auf alle anderen Blocks über. Ich höre Rufe und Schreie aus Alpha und Foxtrott. Kurz darauf sehe ich Hummer-Jeeps und Laster. Soldaten umzingeln im Laufschritt das ganze Lager. Sie tragen kugelsichere Westen und Maschinenpistolen, sie bringen Großfeuerwaffen in Stellung. Sie knien oder liegen auf dem Bauch.
Dann legen sie an. Ich sehe zu den Türmen hinauf: Auch die Scharfschützen zielen auf uns. Die Situation ist bedrohlich. Jeden Moment kann ein Massaker geschehen - es muss nur jemandem gelingen, aus seinem Käfig herauszukommen, denke ich.
Isa! Was macht Isa? Er reißt nicht an seiner Käfigtür. Er steht da, mit geballter Faust, und grinst.
Die Flutlichtscheinwerfer erfassen uns. Ich höre, wie einer der Gefangenen etwas auf Arabisch ruft. Ich habe es nicht verstanden, aber das Geschrei ebbt ab. Die meisten beruhigen sich langsam und lassen die Käfigtüren los. Die Ersten setzen sich wieder. Auch ich setze mich hin, das ist in dieser Situation das Beste. Der arabische Gefangene, dessen Koran geschändet wurde, hebt das Heilige Buch vom Boden auf. Wieder ruft jemand etwas, das ich nicht verstehe. Lange Minuten vergehen, die Soldaten haben uns noch immer im Visier.
Dann kommen die IRF-Teams. Sie sprühen Reizgas aus den Kanonen in alle Blocks. Ich schließe die Augen und presse meine Hände vors Gesicht. Ich höre, wie sie auf den Kieseln rennen, «Hurry, hurry!», Käfigtüren, die aufgehen, «Get up! Hurry!», Ketten, Schläge, Schreie. Ich spreize die Finger und kann sehen, wie Kemal in Charly-Alpha seinen Wassereimer über die prügelnden Soldaten im angrenzenden Käfig ausschüttet. Daraufhin lassen sie von dem Gefangenen ab und stürmen Kemals Käfig. Als er auf dem Boden liegt, kippt Kemals Nachbar einen Eimer auf die Soldaten aus - seinen Toiletteneimer.
Jetzt sehe ich, dass auch andere Gefangene ihre Toiletteneimer über den IRF-Teams entleeren. Das Team, das bei Kemal ist, lässt ihn am Boden liegen. Dann verprügeln sie den Nachbarn. Als sie mit ihm fertig sind, kehren sie zurück zu Kemal, packen ihn an den Füßen und schleifen ihn fort. Viele Gefangene werden weggebracht. Dann kommen die Soldaten zurück und verprügeln die anderen.
Die IRF-Teams haben eine Menge zu tun in dieser Nacht. Erst am Morgen hören sie auf. Sie sehen ziemlich fertig aus. Ich habe Glück, zu mir sind sie diesmal nicht gekommen. Vielleicht sind sie zu müde.
Am nächsten Tag weigerten sich einige Gefangene, ihr Frühstück anzunehmen. Andere nahmen den Pappteller zwar entgegen, aßen aber nichts. Als die Wärter zu mir kamen, verweigerte auch ich das Essen. Auch Salah wollte nichts essen, selbst Abdul rührte seinen Teller nicht an. Wir hatten uns nicht abgesprochen, das geschah spontan. Zu Mittag aß niemand mehr in ganz Charly. Am Nachmittag erfuhren wir aus Bravo, dass sich alle Blocks am Hungerstreik beteiligten. Dabei blieb es. An jedem Morgen, Mittag und Abend kamen die Wärter mit Papptellern oder Emaries, und keiner nahm etwas an.
Kemal kam nicht wieder.
Am vierten Tag des Hungerstreiks erschien der General bei uns. Er redete mit einem der Englisch sprechenden Gefangenen. Der Gefangene weigerte sich, vor dem General aufzustehen. Da nahm der General seine Mütze ab und setzte sich im Gang vor dem Käfig auf den Boden. In diesem Moment dachte ich: Wir waren nicht völlig machtlos. Wir konnten sie in die Knie zwingen, wenn wir gemeinsam hungerten!

(2) Mr. Toilet
Spätestens seit der «Operation Sandmännchen», den verschärften Verhören und Isolationen, wusste jeder Gefangene, wer General Miller war und was wir ihm zu verdanken hatten. Er schritt oft mit einem Trupp Offiziere durch die Blocks, und dabei grinste er, als ob er sehr zufrieden sei. Er war ein älterer Mann, groß und nicht mehr ganz schlank, in seiner Uniform mit den vielen Sternen auf den Schultern lief er herum und verteilte Münzen an die Wärter und Blocksergeants. Einer der Sergeants war so glücklich darüber, dass er die Münze sogar einigen Gefangenen zeigte. Ich rief und fragte ihn, ob ich die Münze auch sehen dürfe.
«Eine Münze vom General! Er hat sie mir gegeben, weil ich gut bin», sagte er.
«Wirklich? Von General Miller?»
«Ja», sagte er und machte die Klappe auf.
Er drückte mir die Münze in die Hand. Darauf stand der Name des Generals, Geoffrey Miller. Darunter: Guantanamo. Es waren Sterne darauf und ein Spruch, etwa wie: «General Miller hilft, die Welt besser zu machen.»
Ich nahm die Münze, warf sie in die Toilette und drückte die Spülung.
«Was machst du da?», schrie der Sergeant.
Er rannte sofort raus und kam mit einem IRF-Team wieder. Nachdem sie mit mir fertig waren, griffen sie in das Toilettenrohr und versuchten, die Münze wieder herauszufischen. Sie war weg. Natürlich kam ich in die Isolation.
Ich saß schon einige Tage auf der Pritsche, als ich merkte, dass die Wärter die Guckklappe in Gesichtshöhe offen gelassen hatten, damit sie im Vorbeigehen hineinsehen konnten. Ich hörte Schritte im Gang und lugte hinaus. Ich sah, dass alle Guckklappen offen standen. Dann hörte ich einen der Gefangenen, er rief auf Arabisch: «Achtung, es ist Miller! Wenn ihr ihm was schenken wollt, dann bereitet euch ganz schnell vor und macht es jetzt!» Deswegen waren die Klappen offen - wegen Millers Visite.
Das war das Kommando. Ich wusste, was passieren sollte. General Miller war gekommen, den Block Oscar zu inspizieren, neben ihm liefen ein anderer General oder hoher Offizier und einige Captains.
Als sie etwa in der Mitte des Gangs angekommen waren, bewarf der erste Gefangene den General mit Fäkalien, die er mit etwas Wasser gemischt in einem Becher oder in einer Emarie-Verpackung aufgefangen hatte. Und er traf. Der General schrie auf, hielt sich die Arme schützend vors Gesicht und drehte sich von der Tür weg. In diesem Moment bekam er aus der Zelle gegenüber eine Ladung ab. Er rannte den Gang hinunter zum Ende des Blocks. Auf seinem Weg haben alle ihre Becher rausgeworfen. Die anderen versuchten, den General abzuschirmen, und der Captain, der sich schließlich vor ihn stellte, blieb verschont.
Unsere Strafe schien vergleichsweise milde. Wir bekamen einige Tage kein Toastbrot mehr, und unsere Isolation wurde um einen Monat verlängert. Was hätten sie tun sollen, wenn sie uns nicht töten wollten?
Einige Wochen später sah ich Miller in einem Block von Camp l. Er stolzierte wie immer durch den Gang.
«Was gehst du so arrogant? Jeder weiß, dass du Scheiße gefressen hast in Oscar», sagte ein Gefangener in sauberstem Englisch.
Miller wurde rot und beschleunigte seinen Schritt.
«Du heißt Miller? Wir haben einen besseren Namen für dich: Mr. Toilet!»
Die Gefangenen lachten. An diesem Tag gab es keine Mahlzeit mehr für den ganzen Block, und für etwa vierzig Tage wurde die Ration halbiert.
Seither hatte General Miller einen neuen Namen unter den Gefangenen.

(3) Gegengewalt
Als ich ein zweites Mal im Waschraum von Camp 4 beim Training erwischt wurde, kam ich erneut in den Block Romeo, und danach wurde ich zur Strafe nach Camp 1 zurückverlegt.
Das war ein Glück. Denn dort erfuhr ich, dass sich in Camp 4 wieder ein Koranvorfall ereignet hatte. Man erzählte mir, dass bei der wöchentlichen Durchsuchung ein Koran zerfleddert und auf den Boden geworfen wurde. Daraufhin kam es zwischen den Gefangenen und den IRF-Teams in diesem Raum zu einem Tumult. Die Gefangenen in den anderen Containern von Camp 4 hatten das mitbekommen.
Mehrere hundert Soldaten rückten an. Sie feuerten Gummigeschosse aus M-16-Gewehren in den Raum der Gefangenen. Jene, die sich vor den Containern aufhielten, wurden schwer verletzt. Nachdem alle gefesselt worden waren, öffneten die Soldaten den nächsten Container, in dem sich eine Gruppe afghanischer Gefangener aufhielt. Die IRF-Teams sprühten CS-Gas. Dann feuerten die Soldaten hinein, warteten und stürmten den Raum.
Das war ein Fehler.
Denn die Afghanen waren vorbereitet. Sie hatten den schweren Deckenpropeller herausgerissen, die Rotorblätter abmontiert und gegeneinander scharf gewetzt. Jetzt waren es Schwerter. Viele Soldaten trugen ernsthafte Schnittverletzungen davon. Andere wurden mit Propellerkabeln gewürgt. Die Afghanen, hieß es in Camp 1, hätten gekämpft, bis sie umfielen. Keiner der Soldaten sei dabei gestorben, aber ein Gefangener berichtete, er habe eine Menge Blut auf dem Boden gesehen.
Ganz Camp 4 wurde evakuiert.

Murat Kurnaz: Fünf Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantanamo. Rowohlt Berlin 2007. 16,90 Euro. Auch als Hörbuch im Audio-Verlag erhältlich.


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