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Freitag, 22.11.2024

Kunstwerke aus „Die Ästhetik des Widerstands“

Peter Weiss interpretiert in seinem Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ (ÄdW) zahlreiche Kunstwerke. Einige davon sind an verschiedenen Orten in Berlin-Mitte zu besichtigen, die nicht weit voneinander entfernt liegen. In diesem Beitrag werden sieben Objekte aus drei Museen und einer Kirche mit Romanauszügen und -lesungen vorgestellt. Im Einzelnen sind das der Pergamon-Altar im Pergamon-Museum, das Totentanz-Fresko in der Marienkirche, die Gemälde "Das Eisenwalzwerk", "Abreise König Wilhelms I. zur Armee 1870", "Ballsouper" von Adolph Menzel in der Alten Nationalgalerie und "Der Streik" von Robert Koehler sowie "Die Freiheit führt das Volk an" von Eugène Delacroix im Deutschen Historischen Museum.
Der nachfolgende Text und die elf Tondateien machen das eigene Smartphone zum Audio-Guide. Der Text kann natürlich auch ausgedruckt, die mp3-Dateien heruntergeladen und auf einem mp3-Player o.ä. mit in die Museen genommen werden.

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Pergamon-Altar

Pergamon-Museum, Museumsinsel, Am Kupfergraben 5.

Pergamonaltar Berlin

Als Auftakt und Schlusspunkt des Romans umrahmt der etwa um 165 v.u.Z. entstandene Pergamonfries das Handlungsgeschehen der ÄdW. Zwei Protagonisten aus Weiss‘ Roman, Horst Heilmann und Hans Coppi, besuchten zusammen mit dem Ich-Erzähler am 22. September 1937 das sieben Jahre zuvor eröffnete Pergamonmuseum. Die drei Freunde betrachten die Reliefs und sprechen über den dargestellten Kampf zwischen Göttern und Giganten. Sie folgen dabei einem Motiv des Romans, überlieferte Kunstwerke immer wieder aktuell auszulegen und sich anzueignen.

Der Roman beginnt wiefolgt:

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mp3-Lesung "Pergamonaltar 1" (Romananfang) aus Peter Weiss: ÄdW

„Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso, einem aufgestützten Arm, einer geborstnen Hüfte, einem verschorften Brocken ihre Gestalt andeutend, immer in den Gebärden des Kampfs, ausweichend, zurückschnellend, angreifend, sich deckend, hochgestreckt oder gekrümmt, hier und da ausgelöscht, doch noch mit einem freistehenden vorgestemmten Fuß, einem gedrehten Rücken, der Kontur einer Wade eingespannt in eine einzige gemeinsame Bewegung. Ein riesiges Ringen, auftauchend aus der grauen Wand, sich erinnernd an seine Vollendung, zurücksinkend zur Formlosigkeit. Eine Hand, aus dem rauhen Grund gestreckt, zum Griff bereit, über leere Fläche hin mit der Schulter verbunden, ein zerschundnes Gesicht, mit klaffenden Rissen, weit geöffnetem Mund, leer starrenden Augen, umflossen von den Locken des Barts, der stürmische Faltenwurf eines Gewands, alles nah seinem verwitterten Ende und nah seinem Ursprung. Jede Einzelheit ihren Ausdruck bewahrend, mürbe Bruchstücke, aus denen die Ganzheit sich ablesen läßt, rauhe Stümpfe neben geschliffner Glätte, belebt vom Spiel der Muskeln und Sehnen, Streitpferde in gestrafftem Geschirr, gerundete Schilde, aufgereckte Speere, zu rohem Oval gespaltner Kopf, ausgebreitete Schwingen, triumphierend erhobner Arm, Ferse im Sprung, umflattert vom Rock, geballte Faust am nicht mehr vorhandnen Schwert, zottige Jagdhunde, die Mäuler verbissen in Lenden und Nacken, ein FallenderEin fallender Gigant vor Artemis. Mit dem Fingeransatz zielend ins Auge des Löwen, mit dem Ansatz des Fingers zielend ins Auge der über ihm hängenden Bestie, vorstürzender Löwe, eine Kriegerin schützend, mit der Pranke ausholend zum Schlag, mit Vogelkrallen versehne Hände, Hörner aus wuchtigen Stirnen ragend, sich ringelnde Beine, mit Schuppen besetzt, ein Schlangengezücht überall, im Würgegriff um Bauch und Hals, züngelnd, die scharfen Zähne gebleckt, einstoßend auf nackte Brust. Diese eben geschaffnen, wieder erlöschenden Gesichter, diese mächtigen und zerstückelten Hände, diese weit geschwungnen, im stumpfen Fels ertrinkenden Flügel, dieser steinerne Blick, diese zum Schrei aufgerissnen Lippen, dieses Schreiten, Stampfen, diese Hiebe schwerer Waffen, dieses Rollen gepanzerter Räder, diese Bündel geschleuderter Blitze, dieses Zertreten, dieses Sichaufbäumen und Zusammenbrechen, diese unendliche Anstrengung, sich emporzuwühlen aus körnigen Blöcken. Und wie anmutig das Haar gekräuselt, wie kunstvoll geschürzt und gegurtet das leichte Kleid, wie zierlich das Ornament an den Riemen des Schilds, am Bug des Helms, wie zart der Schimmer der Haut, bereit für Liebkosungen, doch ausgesetzt dem unerbittlichen Wettstreit, der Zerfleischung und Vernichtung. Mit maskenhaftem Antlitz, einander haltend und von sich stoßend, einander erdrosselnd, überkletternd, vom Pferd gleitend, in die Zügel verwickelt, überaus verwundbar in der Blöße, und wieder entrückt in olympischer Kühle, unbezwinglich erscheinend als Meerungetüm, Greif, Kentaur, doch grimassierend in Schmerz und Verzweiflung, so rangen sie miteinander, handelnd in höherem Auftrag, träumend, reglos in wahnsinniger Heftigkeit, stumm in unhörbarem Dröhnen, verwoben alle in eine Metamorphose der Qual, erschauernd, ausharrend, wartend auf ein Erwachen, in fortwährendem Dulden und fortwährender Auflehnung, in unerhörter Wucht, und in äußerster Anspannung, die Bedrohung zu bezwingen, die Entscheidung hervorzurufen. Ein leises Klingen und Rauschen tönte auf hin und wieder, das Hallen von Schritten und Stimmen umgab uns Augenblicke lang, und dann war aufs neue nur diese Schlacht nah, unser Blick glitt über die Zehen in der Sandale, sich abstoßend vom Schädel eines Gestürzten, über den Sterbenden, dessen lahmwerdende Hand zärtlich auf dem Arm der Göttin lag, die ihn am Schopf hielt. Der Sims war den Kämpfenden der Boden, von seinem schmalen ebenmäßigen Streifen warfen sie sich empor ins Gewühl, auf ihn prallten die Hufe der Pferde, über ihn hinweg streiften die Säume der Kleider und wanden sich die schlangenförmigen Beine, nur an einer einzigen Stelle war der Grund durchbrochen, hier stieg die Dämonin der Erde auf, das Gesicht weggehackt unter den Augenlöchern, die Brüste massiv in dünner Umhüllung, den losgerissnen Klumpen der einen Hand suchend erhoben, die andre Hand um Einhalt bittend ragte aus der Steinkante, und hinauf zum profilierten Vorsprung streckten sich langgliedrige knotige Finger, als wären sie noch unter der Erde und wollten das Gelenk der offnen daumenlosen weiblichen Hand erreichen, sie bewegten sich unterhalb des Simses entlang, suchten nach den verwischten Spuren eingeritzter Buchstaben, und Coppis Gesicht, mit kurzsichtigen Augen hinter Brille mit dünnem Stahlrand, näherte sich den Schriftzeichen, die Heilmann, mit Hilfe eines mitgebrachten Buchs, entzifferte. Coppi wandte sich ihm zu, aufmerksam, mit breitem scharfgezeichnetem Mund, großer, vorstoßender Nase, und wir gaben den Gegnern in diesem Gemenge ihre Namen und besprachen, im Schwall der Geräusche, die Anlässe des Kampfs. Heilmann, der Fünfzehnjährige, der jede Ungewißheit von sich wies, der keine unbelegte Deutung duldete, bisweilen aber auch der poetischen Forderung auf bewußte Entreglung der Sinne anhing, der Wissenschaftler sein wollte und Seher, er, den wir unsern Rimbaud nannten, erklärte uns, die wir bereits um die Zwanzig waren und die Schule seit vier Jahren hinter uns hatten und das Arbeitsleben kannten, und die Arbeitslosigkeit auch, und Coppi das Gefängnis ein Jahr lang, wegen Verbreitung staatsfeindlicher Schriften, den Sinn dieses Reigens, in dem die gesamte, von Zeus geführte Götterschar zum Sieg schritt über ein Geschlecht von Riesen und Fabelwesen.

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mp3-Lesung "Pergamonaltar 2" (Romananfang) aus Peter Weiss: ÄdW

Ge (oder: Gaia), die Mutter der Giganten und Dämonin der Erde, aus der sie auftauchtDie Giganten, die Söhne der klagenden Ge, vor deren Oberkörper wir standen, hatten sich frevelnd gegen die Götter erhoben, andre Kämpfe aber, die über Pergamons Reich hingegangen waren, lagen unter dieser Darstellung verborgen. Die Regenten aus der Dynastie der Attaliden ließen sich von ihren Bildhauermeistern das schnell Vergehende, von tausenden mit ihrem Leben Bezahlte, auf eine Ebene des zeitlos Bestehenden übertragen und damit ein Denkmal ihrer eignen Größe und Unsterblichkeit errichten. Aus der Unterwerfung der vom Norden eindringenden gallischen Völker war ein Triumph adliger Reinheit über wüste und niedrige Kräfte geworden, und die Meißel und Hämmer der Steinmetzen und ihrer Gesellen hatten das Bild einer unumstößlichen Ordnung den Untertanen zur Beugung in Ehrfurcht vorgeführt. In mythischer Verkleidung erschienen historische Ereignisse, ungeheuer greifbar, Schrecken, Bewundrung erregend, doch verständlich nicht als von Menschen hervorgerufen, sondern hinnehmbar nur als überpersönliche Macht, die Geknechtete, Versklavte wollte, in Unzahl, und wenige in der Höhe, die mit einem Fingerzeig die Geschicke bestimmten. Kaum wagte das Volk, als es vorbeizog an feierlichen Tagen, aufzublicken zum Abbild seiner eignen Geschichte, und da umschritten längst schon, zusammen mit den Priestern, die Philosophen und Dichter, die herbeigereisten Künstler, voll Sachkenntnis den Tempel, und was für die Unkundigen im magischen Dunkel lag, war für die Wissenden ein nüchtern einzuschätzendes Handwerk. Die Eingeweihten, die Spezialisten sprachen von Kunst, sie priesen die Harmonie der Bewegung, das Ineinandergreifen der Gesten, die andern aber, die nicht einmal den Begriff der Bildung kannten, starrten verstohlen in die aufgerissnen Rachen, spürten den Schlag der Pranke im eignen Fleisch. Genuß vermittelte das Werk den Privilegierten, ein Abgetrenntsein unter strengem hierarchischem Gesetz ahnten die andern. Einige Skulpturen jedoch, sagte Heilmann, brauchten nicht herausgeschält zu werden aus ihrer Symbolik, der fallende, der sich selbst entleibende Gallier zeigten die unmittelbare Tragik einer realen Situation, diese aber, antwortete Coppi, hätten sich nicht im Freien, sondern zwischen den Trophäen in den Thronsälen befunden, nur um darauf hinzuweisen, wem die Schilde und Helme, die Bündel von Schwertern und Spießen abgenommen worden waren. Einzig um die Absicherung des Herrschaftsbereichs der Könige ging es in den Kriegen. Die Götter, die sich mit den Erdgeistern konfrontierten, hielten die Vorstellung bestimmter Kräfteverhältnisse lebendig. Ein Fries voll namenloser Soldaten, die, Werkzeug der Oberen, in jahrelangen Kämpfen über andre Namenlose herfielen, hätte die Sicht auf die Dienenden verändert, ihre Stellung angehoben, nicht die Krieger, die Könige trugen den Sieg davon, und wer siegte, durfte den Göttern gleich sein, während die Unterlegnen die von den Göttern Verachteten waren. Die Begünstigten wußten, daß es keine Götter gab, denn sie, die sich deren Maske aufsetzten, kannten sich selbst. Desto mehr drängten sie darauf, sich mit Pracht und Würde zu umgeben. Die Kunst diente ihnen dazu, ihrem Rang, ihren Befugnissen den Anschein des Übernatürlichen zu verleihen. Kein Zweifel an ihrer Vollkommenheit durfte entstehn. Heilmanns helles Gesicht, mit den regelmäßigen Zügen, den dichten Augenbrauen, der hohen Stirn, hatte sich der Dämonin der Erde zugewandt. Dämonin der Erde mit Alkyoneus (links), Athena (Mitte) und Nike (rechts oben)Sie hatte Uranos, den Himmel, Pontos, das Meer, und alle Gebirge hervorgebracht. Sie hatte die Giganten, Titanen, Kyklopen und Erinnyen geboren. Dies war unser Geschlecht. Wir begutachteten die Geschichte der Irdischen. Wieder blickten wir hinauf zu ihr, die sich aus dem Boden streckte. Die Wellen des aufgelösten Haars umflossen sie. Auf der Schulter trug sie eine Schale voll Granatäpfeln. Blattwerk, Weintrauben rankten an ihrem Nacken. In der seitwärts nach oben gewandten rohen Fläche des Gesichts war der Ansatz des um Gnade flehenden Munds zu erkennen. Eine Wunde klaffte vom Kinn bis zum Kehlkopf. Alkyoneus, ihr Lieblingssohn, drehte sich, ins Knie sinkend, schräg von ihr weg. Der Stumpf seiner linken Hand tastete nach ihr. Sein linker Fuß, am gedehnten zersplitterten Bein hängend, rührte sie noch an. Schenkel, Unterleib, Bauch und Brust spannten sich in Konvulsionen. Von der kleinen Wunde, die ihm das giftige Reptil zwischen die Rippen geschlagen hatte, strahlte der Todesschmerz aus. Die weit ausgebreiteten Schwingen des Eisvogels, die ihm aus der Schulter wuchsen, verlangsamten seinen Sturz. Der Umriß des abgeborstnen Gesichts über ihm, mit der harten Linie des Halses, des hochgebundnen, unter den Helm gesteckten Haars, sprach von der Unerbittlichkeit Athenas. Im Schwung der Bewegung flog ihr weites gegürtetes Kleid zurück. Unter der niedergleitenden Umhüllung wurde an ihrer linken Brust der Schuppenpanzer sichtbar, mit dem kleinen aufgeblähten Antlitz der Medusa. Das Gewicht des runden Schilds, in dessen Riemen ihr Arm steckte, zog sie voran, zu neuen Taten. Nike, aufschnellend, mit mächtigen Flügeln, lockeren luftigen Röcken, hielt ihr den Kranz, unsichtbar, doch aus der Geste zu erraten, übers Haupt.

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mp3-Lesung "Pergamonaltar 3" (Romananfang) aus Peter Weiss: ÄdW

Nyx, werfend ein Gefäß voller SchlangenHeilmann wies auf die verschwimmende Nachtgöttin Nyx, die, mit lieblichem Lächeln, ihr Gefäß voller Schlangen einem Niedergedrückten entgegenschleuderte, auf den von der offnen Toga umwogten Zeus, der mit der wollnen Ägis, dem Fell des Verderbens, drei Gegner zusammenpeitschte, und auf Eos, Göttin der Morgenröte, wolkengleich reitend vor dem aufsteigenden Doppelgespann des nackten Sonnengotts Helios. So bricht, sagte er sanft, nach dem furchtbaren Gemetzel, ein andrer Tag heran, und jetzt wurde es laut in dem glasüberdeckten Raum vom Schaben der Füße auf glattem Boden, vom tickenden Echo der Schuhsohlen auf den steilen Stufen, die an der aufgebauten Westfront des Tempels hinführten zu den Säulengängen des Innenhofs. Noch einmal wandten wir uns dem Relief zu, das in seinen Bändern überall die Sekunde aufzeigte, in der gewaltsame Verändrung bevorstand, den Augenblick, in dem die gesammelte Kraft die unabwendbare Folge ahnen läßt. Indem wir die Lanze unmittelbar vorm Wurf, die Keule vorm Niedersausen, den Anlauf vorm Sprung, das Ausholen vorm Aneinanderprallen sahn, wurde unser Blick von Figur zu Figur, von einer Situation zur nächsten getrieben, und im ganzen Umkreis begann der Stein zu vibrieren. Tatze eines Löwenfells, links unten Namensschild von HeraklesHerakles aber vermißten wir, den einzigen Sterblichen, der sich der Sage nach mit den Göttern im Kampf gegen die Giganten verbündet hatte, und wir suchten zwischen den eingemauerten Körpern, den Resten der Glieder, nach dem Sohn des Zeus und der Alkmene, dem irdischen Helfer, der durch Tapferkeit und ausdauernde Arbeit die Zeit der Bedrohungen beenden würde. Nur auf ein Namenszeichen von ihm stießen wir, und auf die Tatze eines Löwenfells, das er als Umhang getragen hatte, sonst zeugte nichts mehr von seinem Standort zwischen dem vierpferdigen Gespann der Hera und dem athletischen Leib des Zeus, und Coppi nannte es ein Omen, daß grade er, der unsresgleichen war, fehlte, und daß wir uns nun selbst ein Bild dieses Fürsprechers des Handelns zu machen hatten. Auf dem Weg zum engen, niedrigen Ausgang an der Seite des Saals leuchteten uns oft aus den kreiselnden Verschiebungen in der Menge der Besucher die roten Armbinden der schwarz und braun Uniformierten entgegen, und immer wenn ich im weißen runden Feld das Emblem auftauchen sah, rotierend und hackend, wurde es zur Giftspinne, schroff behaart, gestrichelt mit Bleistift, Tinte, Tusche, unter Coppis Hand, so wie ich es von der Schulklasse des Scharfenberger Instituts her kannte, als Coppi neben mir am Pult gesessen hatte, über kleinen Abbildern, Beilagen aus Zigarettenschachteln, über ausgeschnittnen Zeitungsillustrationen, das Wahrzeichen der neuen Herrscher verunstaltend, die feisten Gesichter, die aus den Uniformkragen ragten, mit Warzen, Hauern, bösen Falten und rinnendem Blut versehend. Auch Heilmann, unser Freund, trug das braune Hemd, mit aufgekrempelten Ärmeln, den Schulterriemen, die Pfeifenschnur, den Dolch an der kurzen Hose, doch er trug diese Kleidung als Tarnung, als Tarnung für seine eignen Erkenntnisse, und als Tarnung für Coppi, der von illegaler Arbeit kam, und für mich, der ich bereit war zum Aufbruch nach Spanien. So standen wir am zweiundzwanzigsten September Neunzehnhundert Siebenunddreißig, ein paar Tage vor meiner Abreise, vor dem vom Burgberg Pergamons hergeholten und wiederaufgebauten Altarfries, der einst, farbig bemalt und mit gehämmerten Metallen ausgelegt, das Licht des ägäischen Himmels widergestrahlt hatte. Heilmann gab die Ausmaße und die Lage des Tempels an, wie er sich gezeigt hatte, als er noch unversehrt war von Sandstürmen, Erdbeben, Plünderungen und Brandschatzungen, auf der terrassenförmig gegliederten Anhöhe der Residenz, oberhalb der Stadt, die heute den Namen Bergama trägt, auf vorgeschobner Plattform, hundertzehn Kilometer nördlich von Smyrna, zwischen den schmalen, zumeist ausgetrockneten Flüssen Keteios und Selinos, nach Westen blickend, über die Kaikosebene in Richtung des Meers und der Insel Lesbos, eine Architektur von fast quadratischem Grundriß, sechsunddreißig zu vierunddreißig Metern im Umfang, zwanzig Meter breit die Freitreppe, gestiftet von Eumenes dem Zweiten, den Göttern zum Dank für gewährte Kriegshilfe, einhundertachtzig Jahre vor unsrer Zeitrechnung begonnen und während zwanzig Jahren erbaut, weithin sichtbar, im zweiten Jahrhundert nach Christi von Lucius Ampelius in seinem Buch der Denkwürdigkeiten zu den Weltwundern gezählt, ehe sie im Schutt eines Jahrtausends versank.

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mp3-Lesung "Pergamonaltar 4" (Romananfang) aus Peter Weiss: ÄdW

pergamon_modell.jpgUnd ist diese Steinmasse, fragte Coppi, die dem Kult fürstlicher und religiöser Zeremonienmeister diente, die den Sieg der Aristokraten über ein erdgebundnes Völkergemisch verherrlichte, nun zu einem freistehenden Wert geworden, jedem angehörend, der davor hintritt. Gewiß waren es hochgezüchtete Gestalten, die hier barbarische Mischwesen niedertraten, und es waren nicht jene verewigt worden, die unten in den Gassen der Stadt die Mühlen, Schmieden und Manufakturen betrieben, die tätig waren auf den Märkten, in den Werkstätten, den Werften am Hafen, auch war das Heiligtum auf dem dreihundert Meter hohen Berg, im ummauerten Bezirk der Magazine, Kasernen, Bäder, Theater, Verwaltungsgebäude und Paläste des regierenden Clans dem Volk nur an Festtagen zugänglich, gewiß waren nur die Namen einiger der Meister überliefert, Menekrates, Dionysades, Orestes, und nicht die Namen derer, die die Zeichnungen auf die Quadern übertragen, mit Zirkel und Bohrer die Schneidepunkte festgestellt und an manchem Haarschwall und Geäder sich voll Kunstverstand geübt hatten, und nichts erinnerte an die Fronarbeiter, die den Marmor brachen und die großen Blöcke zu den Ochsenkarren schleppten, und trotzdem, sagte Heilmann, gereichte der Fries nicht nur den Götternahen zum Ruhm, sondern auch denen, deren Stärke noch verborgen lag denn unwissend waren auch sie nicht, auf ewig wollten sie sich nicht knechten lassen, schon beim Abschluß des Baus erhoben sie sich, unter der Führung des Aristonikos, gegen die Stadtherrn. Doch gehörte dem Werk immer noch der selbe Zwiespalt an, der zu der Zeit galt, als es entstanden war. Dazu berufen, königliche Macht auszustrahlen, konnte es gleichzeitig befragt werden nach seinen Eigenarten des Stils, nach seiner plastischen Überzeugungskraft. Pergamon war zu seiner Glanzzeit, ehe es im Byzantinischen Reich verfiel, berühmt für seine Gelehrten, seine Schulen und Bibliotheken, und die besondren Schreibblätter aus aufgeweichter, geschabter, polierter Kalbshaut machten die Resultate poetischer Erfindung und wissenschaftlicher Forschung beständig. Das Verstummen, die Lähmung derer, deren Los es war, in die Erde gestampft zu werden, war weiterhin spürbar. Sie, die eigentlichen Träger des ionischen Staats, des Lesens und Schreibens nicht kundig, ausgeschlossen vom künstlerischen Wirken, taugten nur dazu, einer kleinen Schicht von Begünstigten den Reichtum und der Elite des Geists die notwendige Muße zu schaffen. Das Dasein der Himmlischen war für sie unerreichbar, in den knienden vertierten Wesen aber konnten sie sich erkennen. Diese trugen, in Grobschlächtigkeit, Erniedrigung und Geschundenheit, ihre Züge. Daß die Apotheose des Götterflugs und der Vernichtung andrängender Gefahr nicht den Kampf des Guten gegen das Böse zum Ausdruck brachte, sondern den Kampf zwischen den Klassen, wurde nicht nur in unsrer heutigen Betrachtung, sondern vielleicht auch schon von manchem geheimem Blick damaliger Leibeigner erkannt. Doch auch die Nachgeschichte des Altars wurde bestimmt von der Unternehmungslust der Begüterten. Als die Bildbrocken, die unter den Ablagerungen vorderasiatischen Machtwechsels vergraben gelegen hatten, ans Tageslicht kamen, waren es wieder die Überlegnen, die Aufgeklärten, die das Wertvolle zu nutzen wußten, während die Viehhüter und Nomaden, die Nachfahren der Erbauer des Tempels, von Pergamons Größe nicht mehr besaßen als Staub. Darüber aber war keine Klage zu verlieren, sagte Heilmann, denn die Verwahrung des Glanzstücks hellenischer Kultur in einem Mausoleum der modernen Welt war dessen spurlosem Begräbnis im mysischen Geröll vorzuziehn. Da unser Ziel die Aufhebung des Unrechts, die Beendigung der Verarmung sei, sagte er, und sich auch dieses Land nur in einem Übergangszustand befände, könnten wir uns vorstellen, daß die Stätte einmal den erweiterten und gemeinsamen Besitz aufzeigen würde, der in der Monumentalität des Geformten gegeben war.

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mp3-Lesung "Pergamonaltar 5" (Romananfang) aus Peter Weiss: ÄdW

Niedergewungener am Fuß der ArtemisSo sahn wir im gedämpften Licht die Geschlagnen und Verendenden. Der Mund eines der Niedergezwungnen, dem der reißende Hund über der Schulter hing, war halboffen, ausatmend. Seine linke Hand lag matt auf dem vorstürmenden lederbekleideten Fuß der Artemis, sein rechter Arm war noch in Notwehr erhoben, in den Hüften aber wurde er schon kalt, und seine Beine waren zu schwammiger Masse geworden. Wir hörten die Hiebe der Knüppel, die schrillenden Pfeifen, das Stöhnen, das Plätschern des Bluts. Wir blickten in eine Vorzeit zurück, und einen Augenblick lang füllte sich auch die Perspektive des Kommenden mit einem Massaker, das sich vom Gedanken an Befreiung nicht durchdringen ließ. Ihnen, den Unterworfnen, zur Hilfe müßte Herakles kommen, nicht denen, die an Panzern und Waffen genug hatten. Vor dem Entstehn der Figurationen war die Gebundenheit gewesen, die Eingeschlossenheit im Stein. In den Marmorbrüchen an den Berghängen nördlich der Burg hatten die Bildhauermeister mit ihren langen Stöcken auf die besten Blöcke gewiesen und dabei die gallischen Gefangnen bei der Arbeit in der dumpfen Hitze beobachtet. Beschirmt und umfächelt von Dattelzweigen, die Augen vor der blendenden Sonne zusammengekniffen, nahmen sie die Bewegungen der Muskeln, die Beugungen und Streckungen der schwitzenden Leiber in sich auf. Die in Ketten herangetriebnen besiegten Krieger, die an Seilen über den Felswänden hingen, Brecheisen und Keile in die Schichten des bläulich weißen kristallinisch glitzernden Kalksteins schlugen und die riesigen Quadern auf Schlitten aus langen Hölzern die gewundnen Wege hinab beförderten, waren wegen ihrer Wildheit, ihrer rohen Sitten verrufen, und furchtsam gingen die Herrn mit ihrem Gefolge abends an ihnen vorbei, wenn sie stinkend, besoffen von billigem Fusel, in einer Grube lagerten. Oben in den Gärten der Burg aber, im leichten Wind, der heraufstrich von der See, wurden die gewaltigen bärtigen Gesichter in ihnen schon zum Stoff des Traums, und sie entsannen sich, wie sie dem einen, dem andern befohlen hatten, stehn zu bleiben, wie sie ihm das Aug aufsperrten, den Mund zum Zähnezeigen aufrissen, wie ihm die Adern an den Schläfen schwollen, und Stirn, Nase und Jochbögen glänzend aus den Schlagschatten traten. Sie hörten noch das Schieben und Stoßen, das Anstemmen der Schultern und Rücken gegen das Gewicht des Steins, die rhythmischen Rufe, die Flüche, die Peitschenschläge, das Knirschen der Kufen im Sand, und sahn die Gestalten des Frieses in den marmornen Särgen schlummern. Langsam schabten sie die Glieder heraus, tasteten sie ab, sahn Formen entstehn, deren Wesen Vollkommenheit war. Indem die Ausgeplünderten ihre Energien in ausgeruhte und aufnahmebereite Gedanken übertrugen, entstand aus Herrschsucht und Erniedrigung Kunst. Durch den lärmenden Strudel einer Schulklasse drängten wir uns in den nächsten Raum, in dem sich das Markttor von MiletMarkttor von Milet im Halbdunkel erhob. Vor den Säulen des Tors, das vom Rathaus der Hafenstadt auf den offnen Handelsplatz geführt hatte, fragte Heilmann, ob wir bemerkt hätten, wie drinnen im Altarsaal eine räumliche Funktion umgestülpt worden sei, dergestalt, daß Außenflächen zu Innenwänden wurden. Mit dem Gesicht zur westlichen Treppe, sagte er, hatten wir hinter uns die Ostseite, also die Rückseite des nur im Ansatz rekonstruierten Tempels, und rechts erstreckte sich aufgeklappt der südliche Fries, während links das Relief am Nordsims verlief. Das, was beim langsamen Umschreiten erfaßt werden sollte, legte sich nun seinerseits um den Beschauer. Dieser schwindelweckende Vorgang ließe uns am Ende die Relativitätstheorie verstehn, fügte er hinzu, als wir, noch ein paar Jahrhunderte tiefer geratend, an den Lehmziegelmauern entlanggingen, die sich einst im babylonischen Getürm des Nebukadnezar befanden, und dann plötzlich auf eine Anlage traten, wo gilbendes Laub, schwirrende Sonnenflecken, zweistöckige hellgelbe Omnibusse, Automobile mit blitzenden Reflexen, Ströme von Passanten und das taktfeste Schmettern nagelbeschlagner Stiefel eine Umstellung unsrer Orientierung, eine neue Positionsangabe forderten." (ÄdW, Bd. 1, S. 7-15, Seitenzahlen nach der Ausgabe des Henschel-Verlags)

Und die letzten Worte des Romans lauten:

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mp3-Lesung "Pergamonaltar" (Romanende) aus Peter Weiss: ÄdW

"Ich würde mich vor den Fries begeben, auf dem die Söhne und Töchter der Erde sich gegen die Gewalten erhoben, die ihnen immer wieder nehmen wollten, was sie sich erkämpft hatten, Coppis Eltern und meine Eltern würde ich sehn im Ge­röll, es würde pfeifen und dröhnen von den Fabriken, Werften und Berg­werken, Tresortüren, Gefängnistüren würden schmettern, ein immer­währendes Lärmen von eisenbeschlagnen Stiefeln würde um sie sein, ein Knattern von Salven aus Maschinenpistolen, Steine würden durch die Luft fliegen, Feuer und Blut würden aufschießen, bärtige Gesichter wür­den sich aus dem Gewühl schieben, zerfurchte Gesichter, mit kleinen Lampen über der Stirn, schwarze Gesichter, mit glitzernden Zähnen, gelbliche Gesichter unterm Helm aus geflochtnem Bast, junge Gesichter, fast kindlich noch, würden anstürmen und wieder untertauchen im Dampf, und blind geworden vom langen Kampf würden sie, die sich auf­lehnten nach oben, auch herfallen übereinander, einander würgen und zerstampfen, wie sie oben, die schweren Waffen schleppend, einander überrollten und zerfleischten, und Heilmann würde Rimbaud zitieren, und Coppi das Manifest sprechen, und ein Platz im Gemenge würde frei sein, die Löwenpranke würde dort hängen, greifbar für jeden, und so­lange sie unten nicht abließen voneinander, würden sie die Pranke des Löwenfells nicht sehn, und es würde kein Kenntlicher kommen, den lee­ren Platz zu füllen, sie müßten selber mächtig werden dieses einzigen Griffs, dieser weit ausholenden und schwingenden Bewegung, mit der sie den furchtbaren Druck, der auf ihnen lastete, endlich hinwegfegen könn­ten." (ÄdW, Bd. 3, S. 277, Seitenzahl nach der Ausgabe des Henschel-Verlags)

Pergamonaltar bei Wikipedia.

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Totentanz-Fresko

Marienkirche, Alexanderplatz, am Fuß des Fernsehturms, Karl-Liebknecht-Straße 8.

Beim Eintritt in die täglich geöffnete Kirche – im Glasgang – ist ein Blick auf einen Teil des Totentanzes möglich. Zutritt mit Blick auf die komplette West- und Nordwand der Turmhalle ist nur mit der wöchentlichen Führung möglich, dienstags, 14 Uhr, 3€.

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Während eines Bombenalarms am 29. August 1942 suchten Heilmann, Coppi und Charlotte Bischoff, in der Marienkirche Schutz. Sie lebten illegal in der Stadt und waren unterwegs, um andere Genoss/innen im Untergrund vor einer bevorstehenden Enttarnung zu warnen. In der Turmhalle der Kirche sprachen sie über Herakles. An diesem Ort, gleich links nach dem Eingangsportal der Kirche, befindet sich das nach der Pest von 1484 entstandene Totentanz-Fresko.

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mp3-Lesung "Totentanz" aus Peter Weiss: ÄdW

„Nun bist du, angesichts dieses Totentanzes ringsum, wieder beim Streitgespräch angelangt, sagte Heilmann, und ihre Blicke glitten, während des Donners draußen, über die fahlen Gestalten an den Wänden der Turmhalle, die, eine jede geleitet von Knochenmännern in weitem fließendem Umhang, zu langsamen Schreiten, schwerfälligen Drehungen ansetzten. Die groben, blaßroten Ziegel an den Pfeilern zitterten unter den Detonationen, dichter noch an den Saum des Mauerwerks drängten sich die andern, die den Raum mit ihnen teilten. […] Und vom Papst, der, zum Flötenspiel des Teufels, den Reigen eröffnete, richtete er die Augen auf den Bischof, dessen Ornat zersprungen war zu violetten Flecken im Verputz, und von dort auf die Frau, die neben ihnen stand, auch sie, deren Name auf diesen Würdenträger hinweise, sagte er, habe sich ja schon darüber geäußert, was unter unsrer Kunst zu verstehen sei. Bei dem dröhnenden Schlag, der die Kirche traf, zogen sie den Kopf ein, als wollten sie sich in sich verkriechen, und glichen so, in ihrer Erstarrung, den Figuren, die, zum Gedenken derer, die Ende des fünfzehnten Jahrhunderts in Berlin die Pest hinweggerafft hatte, an die Wand gemalt worden waren. […] Die mit dünner Haut bespannten Skelette hielten Abt und Kaplan, Kaiser und Kaiserin, Herzog, Ritter und Junker, Kaufmann, Bauern, Geldwechsler und Narren am Arm, totentanz_arzt.jpgund auch der Doktor, der prüfend die Retorte hob, wußte kein Kraut, das jenem gewachsen war, der ihn im Griff hatte, und mußte sich, zu den Tönen der beinernen Flöte, weiter im Kreis bewegen. Die Tür der Marienkirche wurde aufgestoßen, und der löchrige Kopf eines Engels rollte, von Splittern umstoben, in die Halle, lag, noch wackelnd und bebend, auf dem Ziegelboden. Draußen stand alles im Feuerschein. Während die anderen Schutzsuchenden rückwärts ins Kirchenschiff wichen, schoben Heilmann und Coppi sich zur Schwelle des Eingangs vor, schräg gegenüber schossen die Flammen aus den Kupferplatten der Domkuppel, rechter Hand barst, mit ungeheurem Geklirr, das gläserne Dach des Bahnhofs Alexanderplatz, Qualm lagerte auf den dunklen Gebäuden der Halbinsel hinterm Lustgarten [...]“ (ÄdW, Bd. 3, S. 175-178, Seitenzahlen nach der Ausgabe des Henschel-Verlags)

Berliner Totentanz bei Wikipedia.
Detailgenaue Dokumentation des Berliner Totentanz.

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Das Eisenwalzwerk
Alte Nationalgalerie, Museumsinsel, Bodestraße 1-3
menzel_eisenwalzwerk.jpg
Aus dem Jahr 1895 stammt Adolph Menzels Gemälde. Das Motiv hat er selbst vorgeschlagen, als der Bankier Adolph von Liebermann ein Bild von ihm wünschte. Menzels Zeichnungen von Arbeitern und Handwerkern, so Peter Weiss in seinen Notizbüchern, seien im gleichen Geist ausgeführt wie die Abbildungen von Militärs: alle tüchtig und fleißig, da liegt keine Auflehnung, kein Streik in der Luft.

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mp3-Lesung "Das Eisenwalzwerk, Teil 1" aus Peter Weiss: ÄdW

"Ich entsann mich dieses Gesprächs so deutlich, weil es zusammenhing wiederum mit einem Bild, dem zweieinhalb Meter breiten Gemälde des Eisenwalzwerks von Menzel. Anhand eines Farbdrucks hatte mein Vater mir erklärt, wie jetzt, da durch das Heranwachsen einer bewußten Arbeiterklasse auch in der anerkannten offiziellen Kunst ein Platz für sie eingeräumt wurde, auf dem sie sich zur Geltung bringen durfte, und wie gleichzeitig die Großzügigkeit des Etablissements mit geschickter Handhabung zurückgenommen wurde. Allgemein wurde dieses Bild, dessen Original wir uns später in der Nationalgalerie ansahn, eine Apotheose der Arbeit genannt. Die Atmosphäre der Schwerindustrie war überzeugend mit großer technischer Sachkenntnis wiedergegeben worden. Der Dampf, das Dröhnen der Hämmer, das Kreischen der Kräne und Zugketten, das Rotieren der Schwungräder an den Maschinen, die Hitze der Feuer, die Weißglut des Eisens, die Anspannung der Muskeln, dies alles war in der Malerei zu verspüren. Zum Bildzentrum hin schob die Gruppe der Schmiede den glühenden Metallblock vom angehobnen Karren unter die Walze, rechts, abgedeckt durch eine zerbeulte Blechscheibe, zusammengesunken unter Rohren und Ketten, rasteten ein paar Männer, löffelten aus Näpfen, hoben eine Flasche zum Mund, und am linken Bildrand, mit nacktem Oberkörper, wuschen sich Leute der abgelösten Schicht Hals und Haare. Jede Handhabung, jede Drehung und Beugung über den Werkzeugen und auch das müde, erschlaffte Dasitzen in der Ecke war Bestandteil der riesigen Halle, eingezwängt in das Gestänge, das Tageslicht, das entfernt an ein paar Stellen durch den Dunst schimmerte, schien unerreichbar. Die Schilderung dieses unaufhörlichen, verschwitzten Ineinandergreifens sagte nichts andres aus, als daß hier hart und widerspruchslos gearbeitet wurde. Die Wucht im Hoch stemmen und Ausschwingen, geregelt und beherrscht, der Augenblick größter Konzentration beim Griff um die Zangen, die Wachsamkeit des bärtigen Vorarbeiters am Hebel, beim Entgegennehmen des Walzstücks, das Abschrubben der verrußten Körper, das Erloschensein in kurzer Pause, wies auf ein einziges Thema hin, auf die Arbeit, auf das Prinzip der Arbeit, und es war ein bestimmtes Prinzip, dessen Art sich erst nach eingehender Beobachtung definieren ließ. Es handelte sich nicht um die Arbeit, so wie mein Vater von ihr sprach, um die Arbeit als Vorgang der Selbstverwirklichung, sondern um Arbeit geleistet zu niedrigstem Preis und zu höchstem Profit des Arbeitkäufers. Da nur die Arbeitenden zu sehn waren, mit ihrem ganzen Dasein den Tätigkeiten hingegeben, wurde der Eindruck erweckt, daß sie das Werk beherrschten. Sie füllten, kraftvoll skulptiert vom Schein des Feuers, den Raum aus. Beim ersten Anblick, sagte mein Vater, als wir uns im Kunstmuseum befanden, stellen sie sich in der überwältigenden Dominanz von Produktivkräften dar. Und doch bestätigen sie nur bis ins letzte die Regeln der Arbeitsteilung. Es wirkt, als handelten sie selbständig, sie existieren aber einzig in ihrer Bindung an die Maschinen und Geräte, die das Eigentum andrer sind. Diese andern waren nicht zu sehn, die Arbeitenden jedoch waren ihnen verdingt. Auch sie, die im verdreckten Winkel kauerten, eine Weile für sich, fast wie im Besitz eines eignen Lebens, warteten nur auf das Signal, das sie wieder zurückrief. Ihre Stärke entwickelten sie allein im Handwerk, und auch dort waren die Bewegungen ihrer Arme nicht bedrohlich, es war deutlich, daß sie diese ausschließlich zur Erzeugung von Gütern verwenden würden. Die Lobpreisung der Arbeit war eine Lobpreisung der Unterordnung. Die Männer, die sich von Funken umsprüht um die glühende Eisenmasse scharten, die sich am Trog wuschen, und sie, die übermüdet vor sich hinstarrend bei ihrer Mahlzeit saßen und vor denen die junge Frau mit dem verhärmten, ängstlich aufblickenden Gesicht die leeren Becher in den Korb packte, sie alle waren machtlos. Die Tiefe der Fabrik war unbestimmbar, die Reihen der senkrechten und horizontalen Eisenträger und Rohre zogen sich als Gitterwerk ins Unendliche hin. Der sich im Rauch verlierende Bau war eine Welt, aus der es kein Entrinnen gab. Besaßen wir heute auch eine Kantine, einen Waschraum, eine Umkleidekammer und konnten mit technischen Verbeßrungen rechnen, so war der Produktionsgang doch noch der selbe, wie Menzel ihn dargestellt hatte Achtzehnhundert Fünfundsiebzig, vier Jahre nach der Zerschlagung der Commune. Ihre gesammelte Energie legten die Arbeiter in die Herstellung der eisernen Blöcke, aus denen Schienen, Lafetten, Kanonenrohre wurden. Ihre Friedfertigkeit schmolzen sie um zu einer Gewalt, die sich, von weit draußen her, gegen sie, gegen ihre Interessen richten würde. Der Frau mit den umschatteten Augen, rechts vorn, war anzusehn, daß sie in einem Kellerloch zu Hause war, daß ihre Kinder hungerten. Der Maler hatte ihre Dürftigkeit gekennzeichnet, er hatte die Arbeitshetze wiedergegeben, die unwürdigen Verhältnisse, unter denen die Arbeitenden sich wuschen und ihre Mahlzeit einnahmen, und doch weckte das Bild keine Empörung. Vielmehr gemahnte es an etwas Unabwendbares. Der arbeitende Mensch war Träger der Aktion, voller Sicherheit verrichtete er seine Aufgaben, jeder Griff, jede Geste schien ihm selbstbewußte Größe zu verleihn, seine Leistungskraft aber, darauf wies mein Vater hin, war nur dazu angetan, unsichtbare Kassen und Tresore zu füllen. Bei allem Mitgefühl, das der Künstler für die soziale Lage der Arbeiter gespürt haben mochte, waren die Männer, mit ihren zerfurchten Gesichtern und den vor der Glut zusammengekniffnen Augen, ihren um die Werkzeuge geballten Fäusten, doch losgelöst worden von den gesellschaftlichen Kenntnissen, Dokumentationen und Organisationen, die damals bereits Wirklichkeit besaßen. Als Laufjunge dienend bei Alfa Laval sah ich, wen Menzels Meisterschaft vors bewundernde Publikum gestellt hatte, den deutschen Arbeitsmann aus Bismarcks und Wilhelms Reich, unangefochten vom Kommunistischen Manifest, in seiner einzigen Befugnis, wacker und treu zu sein. Seine mit Glanzlichtern und fließenden Schatten versehne Gestalten waren Handlanger des Eisens. Diesem war etwas Elementares zu eigen. Mit seiner intensiven Glut war es mehr als Metall, es symbolisierte die Expansion des industriellen Imperialismus. Der Arbeiter war grade so viel wert, wie der Lohn, den er empfing. Hauptfigur des Werks, dessen Materialtreue die Freude des Fachmanns war, war nicht der Arbeitende, sondern die weißglühende sinterspritzende Luppe, die zur Akkumulation des Kapitals unter die Walztrommeln kam."

menzel_abreise_wilhelms.jpgmenzel_ballsouper.jpg
Menzel: Abreise König Wilhelms I. zur Armee am 31. Juli 1870 (1871, links), Ballsouper (1878, rechts)

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mp3-Lesung "Das Eisenwalzwerk, Teil 2" aus Peter Weiss: ÄdW

"Vielleicht hätte mich diese Lesart des Bilds noch nicht überzeugt, wenn ich das Gemälde im Museum nicht flankiert gesehn hätte von zwei andern Werken des Malers. Das eine schilderte die Abreise des Königs Wilhelm zur Armee, am einunddreißigsten Juli Siebzig. Unter den Linden stand, ehrfürchtig sich verneigend oder in strammer Haltung, hüteschwingend, jubelnd, schluchzend vor Rührung das Volk, und huldvoll winkte der Regent in der Kutsche und fuhr in Richtung Brandenburger Tor, Sedan, Versailles, seiner Proklamierung zum Kaiser und der Gründung des Deutschen Reichs entgegen. Das andre, aus dem Jahr Neunundsiebzig, zeigte ein Ballsouper in den Prunksälen des Schlosses, wo, umglänzt von Gold und Kristall, die ordengeschmückten Herrn in Frack und Galauniform ihre Gläser und Teller balancierten, mit Damen in großer Toilette plaudernd. Zwischen solch festlichem Farbenrausch, schwirrend von Seide, von Juwelen glitzernd, und dem Gewoge von wehenden Fahnen, von Hochrufen auf besonnter Straße, bot sich das verrauchte Eisenwalzwerk dar. Links das Ereignis, von dem es hieß, der Herzschlag der Nation käme darin zum Ausdruck, rechts die Hofgesellschaft unterm Reigen der Engel. Auf der einen Seite die begeisterte Begrüßung des Kriegs, die Erziehung zum Bückling, zum Speichellecken, auf der andern Seite die Verherrlichung schwülstiger Pracht. In der Mitte härteste Schufterei, um denen zur Rechten und Linken den Reichtum zu schaffen. Ein Triptychon über die neuere deutsche Geschichte. Das zentrale Stück mit den Männern in ledernen Schürzen, schwere Stangen und Zangen schwingend, wies den ganzen Betrug auf, der an der Arbeiterklasse begangen wurde. So waren die Arbeitenden, ausgenützt von den Machthabenden, dazu gezwungen worden, den Feldzug gegen Frankreich zu ermöglichen, so hatten sie, verleitet von ihren eignen Parteiführern, den Weltkrieg mit ins Rollen gebracht, und so schmiedeten sie nun dem Faschismus die Waffen. Das Gemälde des Eisenwalzwerks, als Farbdruck weit verbreitet, wurde ihnen, den Produzierenden, als Vorbild, als Mittel zur Erbauung, vorgelegt. Es war in mancher Arbeiterküche zu finden. In größerem Format und eingerahmt kam es früher bei Gewerkschaftsfeierlichkeiten zur Verlosung, später wurde es ausgegeben von nationalsozialistischen Organisationen. Die Werkleute, von Menzel in ein Gefängnis versetzt, aus dem der Klassenkampf verbannt war, wurden von meinem Freund Coppi oft umgezeichnet, so daß in den Zangengriff strampelnde Männchen in Frack und Zylinder oder ordenbehängter Uniform gerieten. Die Reproduktion des Bilds untersuchend, waren wir auf eine weitere aufschlußreiche Einzelheit gestoßen. Beim Nachziehn des perspektivischen Musters der Komposition zeigte sich, daß die Fluchtlinien aller Rohre und Balken, der Walzgestelle und angehobnen Zangengriffe, der Werkstücke auf den Karren und der Schwergewichtsverlagrung in den Bewegungen der Gruppen in dem Punkt links im Hintergrund zusammenliefen, wo, unter der Senkrechten eines Tragpfeilers, ein Herr stand, in Hut und Gehrock, die Hände auf dem Rücken, abgewandt vom Betrieb, das Profil träumerisch dem Lichtstrahl entgegengehoben, der durch die Dämpfe hindurch auf ihn fiel. Solchermaßen beschienen und so abgesondert, müßig und zufrieden war sonst keiner. Unauffällig stand er da, verweilte auf seinem Rundgang und sann nach, vielleicht über die malerischen Reize dieses metallischen Gefüges, vielleicht über Aktienkurse oder über Auszeichnungen, die ihm von den Ministern verliehn würden, und darüber, wie wohl alles unverändert seinen Lauf nehmen könne. So hatte Menzel in dem imponierenden Vexierbild seinen Auftraggeber versteckt." (ÄdW, Bd. 1, S. 352-356, Seitenzahlen nach der Ausgabe des Henschel-Verlags)

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Der Streik
Deutsches Historisches Museum, Zeughaus, Unter den Linden 2

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Als Gegenstück zu Menzels "Eisenwalzwerk" verbindet der Ich-Erzähler in ÄdW mit Robert Koehlers Gemälde "Der Streik" von 1886 ein Historienbild, das die Arbeiter in den Rang handelnder Subjekte erhebt. Koehler wurde wahrscheinlich von dem Eisenbahnerstreik in Pittsburgh 1877 zu diesem Bild angeregt.

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mp3-Lesung "Der Streik" aus Peter Weiss: ÄdW

„Ich beschrieb Ayschmann, wie die Produktionsverhältnisse geschildert worden waren von einem Maler namens Koehler, Achtzehnhundert Sechsundachtzig, in den Vereinigten Staaten. Das Bild hieß Der Streik, und dessen Reproduktion, einer alten Ausgabe der Zeitschrift Harpers Weekly entnommen, hing schon in Bremen bei uns in der Wohnung. Dieses Werk, auf der Pariser Weltausstellung Achtzehnhundert Neunundneunzig gezeigt, hatte nichts von Menzels saftiger und prickelnder Farbbehandlung, es war von illustrativer Sachlichkeit, die eine Frage nach Malweise und Komposition ausschloß und die Aufmerksamkeit allein auf den Inhalt lenkte. Links war der Fabrikbesitzer aus der Tür seines mit einem Säulenvorbau versehnen Hauses getreten. Er stand auf der obersten Stufe der Treppe, hinterm ornamentierten gußeisernen Geländer, vornehm gekleidet, mit Stehkragen, Manschetten, Zylinder, weißhaarig, blaß und verbissen, die Finger der Rechten angehoben, als hielten sie eine Zigarre, die Hand aber war leer, ihre Geste drückte Überraschung, kraftlose Abwehr aus. Überragte er auch die vor ihm Stehenden und war seine Haltung auch noch geprägt von der Selbstsicherheit einer Klasse, die sich das Aufgeben ihrer Vorrechte nicht denken konnte, so war doch ersichtlich, daß ihm gegenüber eine Stärke anwuchs, die ihm ohne geringste Mühe seine Vergänglichkeit beibringen könnte. Rückwärts gedeckt von den Steinquadern seines Hauses, vom erschrocknen Diener jedoch schon halb verlassen, stand er in käsiger Würde vor den Arbeitern, die sich erregt zusammenscharten, und sein ganzer Mut bestand darin, daß es ihm unvorstellbar war, sie könnten den Schritt zu ihm hinauf tun und ihn von seinem Podest reißen. Unzählige Male, schon als Kind, hatte ich dieses Bild betrachtet und mit meinen Eltern drüber gesprochen, und immer wieder regte es die Phantasie zu neuen Auslegungen an. In der Gruppe der auf dem freien Platz vorm Haus versammelten Arbeiter schienen alle Entwicklungsmöglichkeiten des entstandnen Konflikts enthalten zu sein. Die eine Hand geballt, mit der andern, zurückgestreckten Hand auf die Fabrik zeigend, deren Schornsteine, im Gegensatz zu den Schloten der Industrien am diesigen Horizont, nicht rauchten, wandte sich der Wortführer unmittelbar vor der Treppe dem Chef zu, während die andern, in abwartenden und unterschiedlich drohenden Haltungen der Auseinandersetzung folgten oder untereinander heftig diskutierten. Eine Frau versuchte, einen der Arbeiter, dessen Gebärde ausdrückte, daß die Geduld jetzt zu Ende sei, daß sofort was geschehn müsse, zu beschwichtigen, und ein Mann, rechts vorn, mit einer Mütze aus gefaltetem Papier, beugte sich zum staubigen Boden herab, um einen Stein aufzuheben. Sie waren aus ihrer braunschwarzen, burgähnlichen Fabrik rausgekommen, sie waren unbewaffnet, sie hatten sich jetzt genug schinden lassen, voller Zorn waren sie den Hügel hinuntergelaufen, bis zur Treppe, die letzten der Belegschaft eilten aus dem verräucherten Bau, auch der Kutscher hatte sein Pferdegespann, drüben in der lehmigen Mulde, verlassen. Der Griff zum Stein, der im Hintergrund wiederholt wurde, war das Signal, daß nur noch Gewalt möglich sei. Der Besitzer der Fabrik stand steif und kalt als einzelner da, und die Arbeitenden besaßen vernichtende Überlegenheit. Trotzdem blieb dem Herrn Unnahbarkeit erhalten. Der Stein würde nicht geworfen werden. Was auch immer sich aus der gegebnen Situation anbahnen wollte, es kam vor der Schwelle der Treppe zum Stocken. Bei den weiter entfernt Stehenden waren die Bewegungen voller Empörung, Entschlossenheit, in der Nähe des Ziegelsteinhauses ließen sie nach, wurden zögernder, abwartender, jedoch nicht mutlos. Das Haus wurde nicht gestürmt, weil die Arbeiter die Gewalt kannten, die dem morbiden Herrn die Arroganz sicherte. Hinter dem Haus standen unsichtbar die schwerbewaffneten Nationalgarden. Wie oft, sagte ich zu Ayschmann, als wir auf dem Pfad zwischen den Apfelsinenbäumen zum Flußufer zurückgingen, hatte ich versucht, mir vorzustellen, mit welcher Leichtigkeit die Treppe genommen und der Alte mit einem Schlag erledigt werden könnte, doch diese Vorstellung war in sich gebrochen, denn wir wußten, weder in Amerika, noch bei uns, war diese einfache Handlung gelungen. Nur in Rußland hatten sie den Schritt die Stufen hinauf gewagt. Die Menge der Arbeitenden dominierte den Bildraum, ihre Macht war greifbar, das Bisherige war unerträglich, es konnte so nicht weitergehn, und doch kam es nicht zum Sprung. Später verstand ich, daß das im Bild dargestellte Geschehnis, bei aller gärender Unruhe, doch nur eine Möglichkeit enthielt. Der Maler war keiner Utopie verfallen, er stand eindeutig auf der Seite der Arbeitenden, er kannte deren Lebensbedingungen, er hatte seine Gestalten studiert, so wie auch Menzel sie studiert hatte, doch im Gegensatz zu dem preußischen Hofmaler hatte er die Arbeiter, in ihrer schweren Körperlichkeit, nicht im Bann der Warenerzeugung, sondern in ihrem Selbstbewußtsein gezeigt. Sie standen, bei ausgebrochner Kampfaktion, dem Ausbeuter gegenüber, der im Eisenwalzwerk noch unbehelligt meditieren konnte. Ihr Einhalten vor der Treppe war von der Vernunft diktiert. Ein vereinzelter Angriff wäre sinnlos gewesen, sofort zusammengeschossen worden. Das wütende Warten, die geschüttelten Fäuste waren Vorboten von Maßnahmen, die auf organisatorischem Weg getroffen werden mußten. Auch mich packte jedesmal beim Anblick der knöchernen schwarzgekleideten Figur oben auf der Treppe der Aufruhr. Erörterten wir dann das Bild, stellten wir die Klugheit, die historischen Einsichten des Malers fest. Achtzehnhundert Achtundsechzig, das war das Jahr gewesen, als in den Vereinigten Staaten die Massenstreiks begannen, als für den Achtstundentag demonstriert und als, am Ersten Mai, in Chicago die Kundgebung der Arbeiterschaft von den Polizeitruppen blutig niedergeschlagen wurde. Das Bild des Malers Koehler, Achtzehnhundert Fünfzig in Hamburg geboren, Neunzehnhundert Siebzehn verarmt in Minneapolis gestorben, behielt seine Gegenwärtigkeit als unverstelltes Zeugnis vom Antagonismus zwischen den Klassen. Der Gewerkschaftsbund war gegründet worden, die Arbeiterführer aber hatten sich korrumpieren, einkaufen lassen vom Feind, das Proletariat befand sich immer noch vor der dringenden Aufgabe, seine Lage zu verändern.“ (ÄdW, Bd. 1, S. 356-358, Seitenzahlen nach der Ausgabe des Henschel-Verlags)

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Bonus-Track:

Die Freiheit führt das Volk an
Deutsches Historisches Museum, Zeughaus, Unter den Linden 2

Eugene_Delacroix_Freiheit.jpg

Eugène Delacroix' Barrikadenbild von 1830 hängt im Louvre in Paris. Eine Kopie etwa aus dem Jahr 1860 hängt im DHM über einem Türbogen. Der Ich-Erzähler lässt seinen Vater fragen: „ob das Gemälde des Delacroix an Wert verlor, weil dieser zum Reaktionär geworden war“.

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mp3-Lesung "Die Freiheit führt das Volk" aus Peter Weiss: ÄdW

„Wie Guernica war auch die Barrikade von Delacroix, mit der Gestalt der Freiheit, nach dem Pyramidenmuster komponiert, in dem sich das Aufgewühlte als gebändigte Einheit darstellt. Die Farbe war reduziert auf bleierne Töne, auf ein dumpfes Umbra, auch die rote Glut in der Trikolore wurde gedämpft von den Schwaden des Rauchs. Über den Pflastersteinen und Brettern und den wächsernen, flach hingeworfnen Leibern der Toten stieg die Volksführerin auf, die kräftige, halbentblößte Wäscherin, in locker flatterndem Rock, Fahne und Gewehr tragend, mit dem zur Seite gedrehten Gesicht der Nike gleichend, die ihr immenses Profil in Picassos Bildraum streckte. In ihrer fleischigen Fülle, die Faust um die scharf gezeichnete Schußwaffe geballt, den schweren Schenkel vorgestemmt, zeigt sich das Stadium an, in dem die Idee zur materiellen Gewalt wird. In der Dreieinigkeit des Proletariats schlossen sich ihr Arbeiter, Intellektueller und Jugendlicher an. Ayschmann wies auf den Mann in schwarzem Jackett und Hut und mit der breiten Binde um den Hemdkragen. In ihm hatte Delacroix sich selbst porträtiert. Diese biographische Einzelheit verlieh dem Bild einen zusätzlichen Wert, denn sie sprach von einer durch die Zeitumstände erzwungnen Entscheidung. In seinem Wesen eher konservativ, stellte der Künstler sich doch in die vorderste Reihe der Revolutionäre, er war seiner Rolle noch nicht ganz gewachsen, er kniete, leicht zurückweichend, wie nach einer Stütze hinter sich suchend, das Gewehr etwas ängstlich in den Händen, den Finger unbeholfen am Hahn, und dieser Augenblick drückte seine ganze Lebenssituation aus. Was er wiedergab, war ein Wunschbild und besaß deshalb auch etwas von der Absonderlichkeit des Traums, es war seinem Gesicht anzumerken, daß er eigentlich nicht hierher gehörte, verwundert, im überaus real Gemalten, sich der eignen Handlung kaum bewußt und sie bald auch widerrufend, nahm er, visionär, die Position eines Zukünftigen ein. Am weitesten nach vorn, einen Schritt an der Beschirmerin vorbei, war der Junge gelangt, aus den Gassen kam er gestürmt, begeistert seine Pistolen schwingend. Während die Fahnenträgerin unverwundbar schien und die andern Kämpfer, in statuarischer Haltung, abwartend, sich wachsam verhielten, konzentrierte sich alles Mitreißende, Spontane, Heroische in diesem Halbwüchsigen, und indem er den Fuß hob, um über die Gefallnen zu springen, die übergroße Munitionstasche schlenkernd an der Hüfte, war es, als stünde der Sieg der Revolution schon bevor. Darin aber lag gleichzeitig das Schreckliche, denn nicht nur würde der Junge, völlig schutzlos dem Gegner preisgegeben, mit Bestimmtheit in der nächsten Sekunde niedergeschossen werden und in den Leichenhaufen fallen, der gradezu bereit zu schein schien, ihn aufzunehmen, sondern wir wußten auch, was auf den achtundzwanzigsten Juli Achtzehnhundert Dreißig folgte. Das Volk, versammelt unterm Ideal der Freiheit, war bereits betrogen, das Handwerk des Aufstands hatte es ausgeführt wie vier Jahrzehnte zuvor, mit seinen Opfern hatte es höheren Klassen den Weg geebnet, im Hintergrund blieb es auch jetzt, neuer Geldadel, neue Monarchie drängt sich vor. Nachdem in der Folge von Revolution und Gegenrevolution der napoleonische Thron die Diktatur der Jakobiner ersetzt und das Königtum sich auf den Trümmern des Kaiserreichs wiederhergestellt hatte, lag vor der Barrikade die uneingeschränkte Herrschaft des Großkapitals, gegen die der Kampf, in weiteren revolutionären Phasen, fortgesetzt werden würde. Das Erstarrte in diesem Bild, das doch Anspruch drauf erhob, einen Sprung der Geschichte in seiner Kühnheit und Großartigkeit„Wie Guernica war auch die Barrikade von Delacroix, mit der Gestalt der Freiheit, nach dem Pyramidenmuster komponiert, in dem sich das Aufgewühlte als gebändigte Einheit darstellt. Die Farbe war reduziert auf bleierne Töne, auf ein dumpfes Umbra, auch die rote Glut in der Trikolore wurde gedämpft von den Schwaden des Rauchs. Über den Pflastersteinen und Brettern und den wächsernen, flach hingeworfnen Leibern der Toten stieg die Volksführerin auf, die kräftige, halbentblößte Wäscherin, in locker flatterndem Rock, Fahne und Gewehr tragend, mit dem zur Seite gedrehten Gesicht der Nike gleichend, die ihr immenses Profil in Picassos Bildraum streckte. In ihrer fleischigen Fülle, die Faust um die scharf gezeichnete Schußwaffe geballt, den schweren Schenkel vorgestemmt, zeigt sich das Stadium an, in dem die Idee zur materiellen Gewalt wird. In der Dreieinigkeit des Proletariats schlossen sich ihr Arbeiter, Intellektueller und Jugendlicher an. Ayschmann wies auf den Mann in schwarzem Jackett und Hut und mit der breiten Binde um den Hemdkragen. In ihm hatte Delacroix sich selbst porträtiert. Diese biographische Einzelheit verlieh dem Bild einen zusätzlichen Wert, denn sie sprach von einer durch die Zeitumstände erzwungnen Entscheidung. In seinem Wesen eher konservativ, stellte der Künstler sich doch in die vorderste Reihe der Revolutionäre, er war seiner Rolle noch nicht ganz gewachsen, er kniete, leicht zurückweichend, wie nach einer Stütze hinter sich suchend, das Gewehr etwas ängstlich in den Händen, den Finger unbeholfen am Hahn, und dieser Augenblick drückte seine ganze Lebenssituation aus. Was er wiedergab, war ein Wunschbild und besaß deshalb auch etwas von der Absonderlichkeit des Traums, es war seinem Gesicht anzumerken, daß er eigentlich nicht hierher gehörte, verwundert, im überaus real Gemalten, sich der eignen Handlung kaum bewußt und sie bald auch widerrufend, nahm er, visionär, die Position eines Zukünftigen ein. Am weitesten nach vorn, einen Schritt an der Beschirmerin vorbei, war der Junge gelangt, aus den Gassen kam er gestürmt, begeistert seine Pistolen schwingend. Während die Fahnenträgerin unverwundbar schien und die andern Kämpfer, in statuarischer Haltung, abwartend, sich wachsam verhielten, konzentrierte sich alles Mitreißende, Spontane, Heroische in diesem Halbwüchsigen, und indem er den Fuß hob, um über die Gefallnen zu springen, die übergroße Munitionstasche schlenkernd an der Hüfte, war es, als stünde der Sieg der Revolution schon bevor. Darin aber lag gleichzeitig das Schreckliche, denn nicht nur würde der Junge, völlig schutzlos dem Gegner preisgegeben, mit Bestimmtheit in der nächsten Sekunde niedergeschossen werden und in den Leichenhaufen fallen, der gradezu bereit zu schein schien, ihn aufzunehmen, sondern wir wußten auch, was auf den achtundzwanzigsten Juli Achtzehnhundert Dreißig folgte. Das Volk, versammelt unterm Ideal der Freiheit, war bereits betrogen, das Handwerk des Aufstands hatte es ausgeführt wie vier Jahrzehnte zuvor, mit seinen Opfern hatte es höheren Klassen den Weg geebnet, im Hintergrund blieb es auch jetzt, neuer Geldadel, neue Monarchie drängt sich vor. Nachdem in der Folge von Revolution und Gegenrevolution der napoleonische Thron die Diktatur der Jakobiner ersetzt und das Königtum sich auf den Trümmern des Kaiserreichs wiederhergestellt hatte, lag vor der Barrikade die uneingeschränkte Herrschaft des Großkapitals, gegen die der Kampf, in weiteren revolutionären Phasen, fortgesetzt werden würde. Das Erstarrte in diesem Bild, das doch Anspruch drauf erhob, einen Sprung der Geschichte in seiner Kühnheit und Großartigkeit zu preisen, hing damit zusammen, daß der Maler selbst vorm Übergang zur Erneurung innehielt, daß er in einer Zwischenstellung verblieb, beschwert von den Resten romantischer, allegorischer Anschauungen. Vor ihnen, die hier zusammenbrachen im Feuer, die sich wieder aufrafften, lagen die Bastionen von Achtzehnhundert Einunddreißig, Vierunddreißig, Achtundvierzig und Einundsiebzig und auch die Eroberungen im Bereich der Kunst, wie sie Form fanden bei Courbet, Millet, Daumier, van Gogh. Zwischen den Aufständischen wollte Delacroix sich hervorheben, doch jetzt erschrak er, Dem Bürgertum war er näher als seinen Helden, schon war er bereit, sich gegen die Umwälzung zu wenden. Gerade in dieser Gebrochenheit aber kennzeichnete er die Situation auf der Barrikade. Bleich, gespannt seinen Platz einnehmend, mit rotem Band umgürtet, den Zylinder verwegen schief auf dem Kopf, repräsentierte er die Klasse, die mitten im Kampf nach ihren eignen Vorteilen Ausschau hielt, ein Datum hatte er visualisiert, so wie Picasso es mit seinem Bild tat, eine Sekunde widersprüchlicher Hoffnungen, und während das Volk unter der Freiheitsgöttin verblutete, blickte er, der Mitläufer, düster, melancholisch, seinem Aufwachen entgegen, und dieses Aufwachen war voller Verrat. Genau so war jener Tag in Paris. Die Arbeitenden hatten begonnen, um ihre Rechte zu kämpfen, zwischen ihnen aber befand sich, bedrängend, behindernd, bindend, die Reaktion, unendlich mühsam war das Erklimmen einer höheren historischen Stufe, erst jenseits des Walls aus aufgerißnen Straßensteinen würde der wissenschaftliche Sozialismus entstehen, rasend angegriffen, diffamiert, untergraben im kommenden Jahrhundert von der bis an die Zähne bewaffneten Bourgeoisie. Zwölf Jahre früher war das Floß der Medusa in die akademischen Kunsträume eingebrochen. Das Gemälde des Delacroix fand Würdigung bei dem, der sich Bürgerkönig nannte, denn zur Apotheose seines Wegs zur Macht war es geworden, ihm diente jetzt, hochbesoldet, der Künstler.“


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