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Donnerstag, 21.11.2024

Die Verlagerung der Welt

Das Lager ist eine Erfindung der imperialistischen Epoche des Weltkapitalismus an der Schwelle des letzten Jahrhunderts. Dass Menschen in großer Anzahl eingesperrt und dabei massiv ihrer sozialen und politischen Rechte beraubt werden, hat seinen Anfang in der europäischen Kolonialpolitik.

[Die Tafeln im Überblick] - [PDF-Datei: Katalog zur Ausstellung]

Der Begriff "Re-Konzentration" bzw. "Konzentration" taucht zum ersten Mal 1896 in der damals spanischen Kolonie Kuba auf. Die Militärs konzentrierten dort große Teile der Landbevölkerung in festgelegten und bewachten, aber nicht komplett abgeriegelten Zonen, um die Aufständischen von der Bevölkerung zu isolieren und somit die antikoloniale Revolte auszutrocknen. Ein paar Jahre später machten sich die Briten die Erfahrung der Spanier zu Nutze.

Als Antwort auf den Guerillakrieg der Buren gegen die britische Kolonialmacht in Südafrika, sperrten die Militärs des Empire die Zivilbevölkerung zu Zehntausenden in stacheldrahtumzäunten Lagern ein. Zum ersten Mal in der Geschichte ist von Konzentrationslagern die Rede. Einen Schritt weiter gingen dann die Deutschen in ihrer Kolonie Südwest-Afrika, dem heutigen Namibia. Sie kombinierten das britische Konzentrationslager mit der Zwangsarbeit. Nach der Niederschlagung des Herero-Aufstands durch einen Vernichtungskrieg, wurden die Überlebenden interniert und als Zwangsarbeiter von den Militärs, aber auch von zivilen Unternehmen, etwa beim Bau der Eisenbahnlinie von Swakopmund nach Windhuk, eingesetzt. Die Arbeitsbedingungen und die Verhältnisse in den Camps waren so schlecht, dass bereits im ersten Jahr der Gefangenschaft mehr als die Hälfte der insgesamt eingesetzten 22.000 Arbeiter ums Leben kam.

Konzentrationslager der
1. Republik

Von den Lagern des deutschen Kolonialismus war es ein relativ direkter Weg zum nationalsozialistischen Lagersystem, das ab 1933 kontinuierlich ausgebaut wurde. Die massenhafte Internierung von Menschen in Deutschland begann mit dem Zwangsarbeitersystem im 1. Weltkrieg. Die Unterbringung in abgeschlossenen und bewachten Lagern war sowohl für Kriegsgefangene, als auch für in Deutschland lebende Angehörige "feindlicher" Staaten frühzeitig durchgesetzt worden.

Die ersten Konzentrationslager entstanden in der frühen Weimarer Republik, jedoch nicht zur Disziplinierung nicht-deutscher Zwangsarbeiter/innen, sondern als Orte der Abschreckung von osteuropäischen Migrant/innen. Hier begann die Aussonderung von Juden als vermeintliche "Volksschädlinge": der Feind war Migrant und Jude in einem. Die erste deutsche Republik wollte unmittelbar nach dem Ende des 1. Weltkrieges insbesondere die jüdischen Migranten aus Osteuropa abschrecken, die, sofern sie ins "Reich" gelangt waren, für Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Inflation und Wohnungsnot, kurz die Krisenerscheinungen der frühen 20er Jahre verantwortlich gemacht wurden. Ende des Jahres 1919 hatte Preußens sozialdemokratische Regierung die Einweisung aller "unerwünschten Ostjuden in spezielle Lager" angeordnet, und bereits 1920 gab es in Stargard und Cottbus die ersten "Konzentrationslager", dieser Begriff hatte sich mittlerweile durchgesetzt. Sie wurden erst drei Jahre später geschlossen, nachdem die Presse mehrfach über die menschenunwürdigen Lagerbedingungen berichtet hatte.

Im Nazideutschland wurde aus dem Konzentrationslager des kriegführenden Kaiserreichs und der frühen Weimarer Republik der Ort des Holocaust. In den ersten Konzentrationslagern wie Dachau und Buchenwald wurde die politische Opposition eingesperrt, später kamen "Juden" und "Zigeuner" und weitere als "Volksschädlinge" klassifizierte Bevölkerungsgruppen hinzu. Zwangsarbeit, Folter, Schikanen, Hinrichtungen oder medizinische Versuche an Gefangenen waren an der Tagesordnung. Mit Beginn des Krieges internationalisierte sich das NS-Lagerregime und wuchs zu einem europaweiten Komplex von Konzentrations- und Zwangsarbeiterlagern. Hinzu kamen sechs Vernichtungslager wie Treblinka und Sobibor, deren Zweck weder in Internierung noch Vernichtung durch Arbeit, sondern einzig und allein in der fabrikmäßigen Tötung vor allem der jüdischen Bevölkerung Europas lag. Zu Anfang wurde die Deportation in die Vernichtungslager von behördlichen Stellen noch als "Abschiebung" bezeichnet.

Wenn heute von Lagern oder Konzentrationslagern die Rede ist, dann ist die fast unmittelbare Assoziation das Konzentrationslager, wie es der Nationalsozialismus in Form von Auschwitz hervorgebracht hat. Aber es gibt Lager, auch Konzentrationslager, unterschiedlicher Funktion, und sie sind bis heute ein weltweites Phänomen. Das koloniale Frankreich bediente sich ihrer in Algerien, genauso wie die griechische Militärdiktatur. Unter Pinochet wurde in Santiago de Chile das Stadion als Gefangenenlager umfunktioniert. In Israel wurde 2002 das Militärlager Ansar 3 in der Negev-Wüste wiedereröffnet.

Auch der Linken ist die Unterbringung von Menschen in Lagern keinesfalls fremd. Der stalinistische Aufbau des Sozialismus in einem Land wurde im großen Stil mittels Arbeitslagern regelrecht aus dem Boden gestampft. Und in Vietnam folgten den französischen Internierungslagern die kommunistischen Umerziehungslager. Tito hatte seine "Kahle Insel" für die politischen Gegner, und albanische Lagergefangene bauten den Flughafen von Tirana. Verwerflich? Dort wo es innerhalb der Linken angesprochen wurde, wurden diese Lager, weil unter sozialistischem Vorzeichen stehend, meistens gerechtfertigt. Kritik gab es nur, wenn der betreffende Staat nicht mit der politischen Richtung zusammenfiel, der man selber anhing.

Das Recht Rechte zu haben

In ihrem Buch "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" schrieb Hannah Arendt: "Dass es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben - und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungsgeflecht zu leben, in dem man auf Grund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird - , wissen wir erst, seitdem Millionen Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen." Dieser Gedanke hat auch gut fünfzig Jahre nach Erscheinen des Buches kaum an Aktualität verloren.

Zerfallende Gesellschaften und Nationalstaaten, inner- und zwischenstaatliche Verteilungskriege und der seinem Wesen nach nicht endende "Krieg gegen den Terrorismus" schaffen eine Realität, in der Menschen massenhaft im Niemandsland der Rechtlosigkeit landen. Sie werden in Lager eingesperrt, weil sie nach herrschender Auffassung als schädlich oder gefährlich gelten, oder weil man sie sich vom Leibe halten will. So gibt es in der zwischen Armut und Reichtum auseinanderklaffenden Welt eine Verbindung von den Kriegen gegen Afghanistan und den Irak, über Guantanamo, das Flüchtlingslager Woomera in der Wüste Südaustraliens bis hin zu den neu geplanten EU-Lagern in Nordafrika, und den Sammel- und Abschiebelagern in Deutschland. Ohne Übertreibung kann von einer Internationalisierung des Lagerregimes gesprochen werden. Und wer dagegen vorgehen will, kann direkt vor der Haustür damit anfangen.

Lagerdeutschland

In der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik ist die Unterbringung in Lagern konstituierend und seit Mitte der 1980er Jahre die Regel: Der Aufenthalt neu ankommender Migrant/innen sollte möglichst unangenehm und abschreckend gestaltet werden. Der ehemalige hessische Innenminister Gries (FDP): "Das Lager soll nicht einladend wirken, sondern Scheinasylanten abschrecken. Auch das ist gemeint (...) lagermäßige Unterbringung, Zugangskontrollen und Ausgangsbeschränkung - ganz klar!" Das war 1982. Seitdem wurde die Flüchtlingspolitik kontinuierlich verschärft und immer restriktiver gehandhabt. Die 1993 eingeführte Drittstaatenregelung und das tödliche Grenzregime der Festung Europa wirken sich deutlich aus: Die Zahl der Asylanträge ist seit Jahren rückläufig. Sukzessive wurde ein repressives Regime aus Sondergesetzen und Sonderregelungen geschaffen, in dessen Zentrum die Lager stehen. Es ist eine eigene Welt, und sie beinhaltet ein ganzes System von Disziplinierungsmaßnahmen. Das reicht von der Ausgabe von Lebensmittelpaketen, über die Verweigerung der Arbeitserlaubnis bis zu mangelhafter medizinischer Versorgung. Um die Lager herum schränken Residenzpflicht und verdachtsunabhängige Kontrollen die Bewegungsfreiheit weiter ein. Auch das neue Zuwanderungsgesetz kennt in der Unterbringung keine andere Form: Sammellager für Ankommende, und neben den Abschiebegefängnissen noch spezielle Abschiebelager, so genannte "Ausreisezentren", für Menschen, die das Land verlassen sollen.

Europäische Vorwärtsverteidigung

Auch im Rahmen der europäischen Migrationspolitik, die aufs Engste mit der herrschenden Sicherheitspolitik verflochten ist, gehen der Lagerausbau und die Internierung von Flüchtlingen weiter. Beispiel Flüchtlingslager Debrecen in Ungarn: Zwei Wochen vor Beginn des US-amerikanischen Angriffs auf Afghanistan wurden dort alle afghanischen Flüchtlinge, die sich in Ungarn aufhielten, zwangsinterniert. Es gab eine Ausgangssperre, und das Lager wurde von der ungarischen Grenzpolizei bewacht. Beispiel: Irakkrieg. In einem Strategiepapier der britischen Regierung mit dem Titel "Eine neue Vision für Flüchtlinge" wurden Auffangzonen rund um Kriegsgebiete und so genannte "Transit Processing Centres" vor den Toren der EU angedacht, ohne dass es während des Krieges zu einer Umsetzung dieser Projekte gekommen wäre.

Im Sommer 2004 startete dann Otto Schily seinen Vorschlag. In Anlehnung an das EU-Programm zur Bekämpfung der illegalen Migration forderte er Auffanglager in Nordafrika. "Asylshopping sollte unterbleiben", so Schily wörtlich. Im Oktober 2004 war es dann soweit. Beim Treffen der EU-Justiz- und Innenminister im niederländischen Scheveningen einigte man sich auf fünf Pilotprojekte in Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko und Mauretanien. Und noch eine zweite Sache wurde auf diesem Treffen diskutiert. Analog zu Schilys Vorschlag brachte der österreichische Innenminister Strasser die Idee ins Spiel, ein Flüchtlingslager für Tschetschenen in der Ukraine zu errichten, ebenfalls als Pilotprojekt. Zur Zeit liegt dieses Projekt noch auf Eis, aber es zeichnet sich ab, dass neben Nordafrika und dem Mittelmeerraum bald auch in Osteuropa die zweite Front der Abschottung weiter ausgebaut wird.

Menschen auf der Flucht - seien sie staatlich Verfolgte, Bürgerkriegsflüchtlinge oder Elendsflüchtlinge auf der Suche nach Auskommen und Lebensmöglichkeiten - werden als "Illegale" denunziert. Die Begriffe, die dabei fast immer mitschwingen sind "Kriminalität" und "Terrorismus", nochmals stärker seit dem 11. September. Dementsprechend militarisiert ist die europäische Migrationspolitik. So hat Italien im Zusammenhang mit dem Lagerprojekt in Libyen Aufklärungsflugzeuge, Hubschrauber, Patrouillenboote, wüstentaugliche Fahrzeuge sowie Radar- und Nachtsichtgeräte geliefert. Die neuen Lager der EU sind Teil einer imperialen Sicherheitspolitik, die die weltweiten Machtverhältnisse zugunsten der metropolitanen Wohlstandsinseln festschreiben will.

Outsourcing
und Exterritorialität

Haben wir im Bereich der Migration die Konstruktion des illegalen und tendenziell rechtlosen Einwanderers, finden wir als Pendant im weltweiten "Krieg gegen den Terror" den unrechtmäßigen, feindlichen und ebenfalls tendenziell rechtlosen Kämpfer, den "unlawful enemy combatant". Die Konsequenz, die sich aus dieser Zuschreibung ergibt, ist zum Beispiel, dass den rund 600 Gefangenen auf Guantanamo der Gefangenenstatus nach der Genfer Konvention nicht zugestanden wird. Für die US-Regierung sind sie keine Kriegsgefangene.

Daneben spielt eine zweite Konstruktion, die so genannte "Exterritorialität" eine entscheidende Rolle. Nach Meinung der US-Regierung sind US-Gerichte für diesen Militärstützpunkt nicht zuständig, weil Cuba dort die "volle Souveränität" besitzen würde. Das bedeutet, dass den Gefangenen auch nicht die von der amerikanischen Verfassung garantierten Rechte zugestanden werden. So scheiterten bis ins Jahr 2004 vor amerikanischen Gerichten alle Klagen von Anwälten wegen Verletzungen der Menschenrechte in Guantanamo.

Kriegsgefangene, genauso aber auch zivile Gefangene in amerikanischen Gefängnissen, sollen de jure mit Würde behandelt und dürfen nicht gefoltert werden. Auch wenn die Realität in amerikanischen Gefängnissen de facto anders aussieht, ist das der springende Punkt. Mit Guantanamo schuf die US-Regierung einen exterritorialen-rechtsfreien Raum, in dem die Gefangenen schutzlos den Geheimdiensten und Militärs ausgeliefert sind.

Es gibt mindestens noch zwei weitere Gefangenenlager, über die in der Öffentlichkeit nur sehr wenig bekannt ist: Auf den US-Militärstützpunkten Diego Garcia im Indischen Ozean, und im afghanischen Bagram, 40 km nördlich von Kabul. Die totale Verfügungsgewalt über Gefangene in diesen Lagern verbindet sich mit einer weiteren Struktur der Folter, die "rendition" genannte Übergabe von Gefangenen an Staaten wie Syrien, Saudi-Arabien, Marokko oder Pakistan zur "Nachrichtengewinnung". Nach dem 11/9 unterzeichnete Bush einen Erlass, durch den der Geheimdienst bislang etwa 150 Verdächtige zu Verhören in die genannten Länder ausfliegen konnte. Bei diesem "Outsourcing von Folter", wie es ein US-Abgeordneter nannte, werden den Gefangenen keinerlei Rechte eingeräumt. Am 28. Juni 2004 fällte der Supreme Court, das Oberste Gericht der USA, ein Urteil zugunsten von Inhaftierten auf Guantanamo und sprach ihnen das Recht zu in ihrer Sache Gerichte in den USA anzurufen. Die Folge: Mehr als die Hälfte der Gefangenen soll jetzt in neue Internierungslager in Saudi-Arabien, Afghanistan und im Jemen verlegt werden.

Verbindungen schaffen

Lager sind nicht populär und haben ein negatives Image. In allen westlichen Ländern gibt es teilweise sogar breit getragenen Protest und Widerstand gegen die Internierung von Flüchtlingen in Lagern. Gleichzeitig wehren sich dort die Menschen mit Hungerstreiks und Revolten gegen ihre Zwangsunterbringung. In Guantanamo und den anderen Lagern des "Kriegs gegen den Terror" sieht es da schon anders aus. Für diese scheinen sich vor allem die klassischen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch zu interessieren.

Dabei besteht zwischen beiden Lagertypen ein systemimmanenter Zusammenhang. Lager stehen für Ausgrenzung, Entrechtung und teilweise totale Verfügungsgewalt in den Händen staatlicher Macht. Lager sind Orte eines organisierten Ausnahmezustands im Prozess imperialer Machterweiterung. Die Methoden und Techniken, die Gewalt und der Terror, die dabei zur Anwendung kommen haben ihren Ursprung im System kolonialer Herrschaft. Rechtlosigkeit herrscht nicht nur in den Lagern. Sie hängt unmittelbar mit einer Ökonomie zusammen, deren Akkumulation soziale Ausgrenzung im Weltmaßstab produziert. "Wer aus Bosnien oder aus Rumänien nach Deutschland kommt, muss wissen: Er kommt ins Lager", hatte Altkanzler Schmidt 1992 erklärt:

Wehe dem, der dieses Land betritt.

[ aus: So oder So - Die Libertad!-Zeitung Nr. 15 - Mai/Juni 2005 ]


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