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Donnerstag, 26.12.2024

Arundhati Roy: Wanderung mit den Genossen

Im vergangenen Monat beschloss Arundhati Roy in aller Stille und unangekündigt, die abweisenden und verbotenen Bezirke der Dandakaranya-Wälder Zentralindiens zu besuchen, die Heimat einer Vielfalt von Stammesvölkern, von denen viele zu den Waffen gegriffen haben, um ihr Volk vor den vom Staat unterstützten Marodeuren und Ausbeutern zu schützen. Sie zeichnete mit beträchtlicher Genauigkeit ihre erste journalistische „Begegnung” von Angesicht zu Angesicht mit den bewaffneten Guerillakämpfern auf, mit ihren Familien und Kameraden, wofür sie wochenlang auf persönliches Risiko die Wälder durchstreifte.

Arundhati Roy findet einen ruhigen Augenblick für sich selbst während ihres anstrengenden Besuchs in den Wäldern, wo sie der erste Journalist/Schriftsteller wurde, das Tabu zu brechen, die Maoisten-Guerillas in ihren Schlupfwinkeln zu interviewen. [Dies ist falsch: Der schwedische Schriftsteller Jan Myrdal hat erst Ende vergangenen Jahres – und auch schon früher – die Guerilla besucht, interviewt und darüber in u.a. Folket i Bild 2/10 berichtet. D.Ü.]

Quelle: Walking With The Comrades (29.3.2010), übersetzt von Tlaxcala, dem internationalen Übersetzernetzwerk für sprachliche Vielfalt. http://www.tlaxcala.es/pp.asp?reference=10317&lg=de


Treffpunkt Dantewada: Roy mit den Maoisten

Die knappe, mit Schreibmaschine geschriebene Nachricht wurde in einem versiegelten Couvert unter der Tür meines Appartements durchgeschoben und bestätigte mein Treffen mit 'Indiens größter Bedrohung der inneren Sicherheit'. Ich hatte monatelang darauf gewartet, von ihnen zu hören. Ich sollte mich in Ma Danteshwari mandir in Dantewada, Chhattisgarh einfinden an einem von vier angegebenen Zeitpunkten an zwei angegebenen Tagen. Das hieß, sich auf schlechtes Wetter vorzubereiten, auf Reifenpannen, Straßensperren, Transportstreiks und schieres Pech. In der Nachricht hieß es: „Der Schriftsteller sollte eine Kamera, einen Tika [das rote Segenszeichen auf der Stirn der Hindus. D.Ü.] und eine Kokosnuss dabeihaben. Der Abholer wird eine Kappe tragen, das Hindi Outlook Magazin und Bananen dabeihaben. Losung: Namashkar Guruji.”

Namashkar Guruji. Ich fragte mich, ob der Abholer und Begrüßer etwa einen Mann erwartete. Und ob ich mir einen Schnurrbart zulegen sollte.

Es gibt viele Arten, Dantewada zu beschreiben. Es ist ein Widerspruch in sich. Es ist eine Grenzstadt direkt im Herzen von Indien. Sie ist das Epizentrum des Krieges. Sie ist eine Drunter- und- Drüber- Stadt, wo alles auf dem Kopf steht.

Roter Schatten: 100 Jahrfeier der Adivasi-Erhebung in Bastar; eine Sten-Maschinenpistole in der Hand. [Adivasi = ein Sammelbegriff für alle indigenen Völker Indiens. D.Ü.]

In Dantewada trägt die Polizei Zivil und die Rebellen Uniform. Der Gefängnissuperintendent sitzt im Gefängnis. Die Gefangenen sind frei (dreihundert von ihnen entkamen vor zwei Jahren aus dem alten Stadtgefängnis). Frauen, die vergewaltigt wurden, sitzen im Polizeigewahrsam. Die Vergewaltiger halten Reden im Bazar.

Auf der anderen Seite des Flusses Indravati, in dem von Maoisten kontrolliertem Gebiet, liegt der Ort, den die Polizei 'Pakistan' nennt. Dort sind die Dörfer leer, aber der Wald ist voller Leute. Kinder, die zur Schule gehen sollten, rennen wild herum. In den hübschen Walddörfern sind die Zementschulen entweder gesprengt worden und sind ein Trümmerhaufen oder sie sind voller Polizei. Der tödliche Krieg, der sich im Dschungel entwickelt, ist ein Krieg, über den die Regierung sowohl stolz als auch befangen ist. Die 'Operation Green Hunt' (Operation Grüne Jagd) ist sowohl proklamiert als auch geleugnet worden. P. Chidambaram, Indiens Innenminister (und Generalmanager des Krieges), sagt, er existiere nicht, er sei eine Medienerfindung. Und dennoch sind erhebliche Gelder dafür bereitgestellt und zehntausende Soldaten sind dafür mobilisiert worden. Obwohl der Kriegsschauplatz in den Dschungeln Zentralindiens liegt, wird er ernsthafte Konsequenzen für uns alle haben.

Wenn Gespenster die zurückbleibenden Geister von jemandem sind oder etwas, was aufgehört hat zu existieren, dann ist vielleicht die vierspurige Autobahn, die durch den Wald geschlagen wurde, das Gegenteil eines Gespenstes. Vielleicht ist sie der Vorbote dessen, was kommt.

 Die Antagonisten im Wald sind verschieden und ungleich in beinahe jeder Beziehung. Auf der einen Seite steht eine massive paramilitärische Streitmacht, bewaffnet mit dem Geld, der Feuerkraft, den Medien und der Anmaßung einer entstehenden Supermacht. Auf der anderen Seite stehen gewöhnliche Dorfbewohner, bewaffnet mit traditionellen Waffen und unterstützt von einer hervorragend organisierten, hoch motivierten maoistischen Guerilla-Streitmacht mit einer ungewöhnlichen und gewalttätigen Geschichte bewaffneter Rebellion. Die Maoisten und die Paramilitärs sind alte Gegner und ältere Avatars von einander haben schon öfters zuvor gegeneinander gekämpft: Telengana in den 50-ern; Westbengalen, Bihar, Srikakulam in Andhra Prodesh Ende der 60-er und 70-er Jahre; und wieder in Andhra Pradesh, Bihar und Maharashtra seit den 80-ern bis heute. Sie sind vertraut mit den gegenseitigen Taktiken und haben die gegenseitigen Kampf-Handbücher gründlich studiert. Jedes Mal schien es, als ob die Maoisten (oder ihre früheren Avatars) nicht nur einfach besiegt, sondern buchstäblich physisch ausgelöscht worden seien. Und jedes Mal sind sie wieder auferstanden, besser organisiert, entschlossener und einflussreicher denn je zuvor. Heute hat sich der Aufstand wieder in den Wäldern, so reich an Bodenschätzen, von Chhattisgarh, Jharkhand, Orissa und Westbengalen ausgebreitet, die Heimat von Millionen indischer Stammesmenschen, das Traumland der korporativen Welt.

Für das liberale Gewissen ist es einfacher zu glauben, dass der Krieg in den Wäldern ein Krieg zwischen der Regierung von Indien und den Maoisten ist, die Wahlen einen Betrug nennen, das Parlament einen Schweinestall, und die offen ihre Absicht erklärt haben, den indischen Staat zu stürzen. Es ist auch bequem zu vergessen, dass die Stammesvölker in Zentralindien eine Geschichte des Widerstandes haben, die Jahrhunderte älter als Mao ist. (Das ist natürlich eine Platitude. Wäre es nicht so, würden sie nicht existieren.) Die Ho, Oraon, Kol, Santal, Munda und Gond haben alle mehrmals rebelliert, gegen die Briten, gegen die Zamindars [Großgrundbesitzer, aber ursprünglich die Steuereintreiber des Moguls, die schließlich eine eigene Schicht im Feudalsystem bildeten. D.Ü.] und gegen die Geldverleiher. Die Rebellionen wurden grausam niedergeschlagen, viele tausend Menschen wurden getötet, aber die Völker wurden niemals erobert. Selbst nach der Unabhängigkeit standen die Stammesvölker an der Spitze des ersten Aufstandes, der als maoistisch bezeichnet werden konnte, im Dorf Naxalbari in Westbengalen (daher das Wort Naxaliten, das jetzt synonym mit 'Maoisten' benutzt wird). Seit damals ist die Politik der Naxaliten unlösbar mit den Stammesaufständen verbunden, was ebenso viel über die Stämme wie über die Naxaliten aussagt.


Sie rühren sich nicht vom Fleck: Leute aus dem Dorf Kudur protestieren gegen den Bodhghat Damm:  „Er gehört nicht den Kapitalisten, Bastar gehört UNS!”

Dieses Erbe an Rebellion hat ein wütendes Volk hinterlassen, das bewusst von der indischen Regierung isoliert und marginalisiert wurde. Die indische Verfassung, das moralische Fundament der indischen Demokratie, wurde 1950 vom Parlament angenommen. Es war ein tragischer Tag für die Stammesvölker. Die Verfassung ratifizierte die koloniale Politik und machte den Staat zum Vormund der Heimatländer der Stammesvölker. Über Nacht wurde die gesamte Stammesbevölkerung zu Besetzern ihres eigenen Landes gemacht. Man verweigerte ihr die traditionellen Rechte auf die Waldprodukte, man kriminalisierte ihre ganze Art zu leben. Im Tausch gegen das Wahlrecht wurde ihr das Recht auf ihre Lebensgrundlage  und Würde genommen.

Nachdem man diese Völker enteignet und sie in eine Abwärtsspirale von Armut gestoßen hatte, begann die Regierung mit einem grausamen Taschenspielertrick deren Armut gegen sie zu wenden. Jedes Mal, wenn sie eine große Menge Menschen umsiedeln musste – für Staudammbauten, Bewässerungsprojekte, Bergwerke – sprach man davon, „die Stammesvölker dem Mainstream anzupassen” oder ihnen „die Früchte der modernen Entwicklung” zu geben. Von den dutzenden Millionen Binnenvertriebenen (mehr als 30 Millionen durch große Dämme allein), den Flüchtlingen durch Indiens 'Fortschritt', besteht die große Mehrheit aus Stammesleuten. Wenn die Regierung von Stammes-Wohlfahrt zu sprechen beginnt, ist es an der Zeit, sich Sorgen zu machen.

Der jüngste Ausdruck für Beunruhigung kam von Innenminister P. Chidambaram, der sagt, er möchte nicht, dass die Stammesvölker in „Museum-Kulturen” leben. Das Wohlergehen der Stammesvölker schien keine besondere Priorität zu haben in seiner Karriere als Firmen-Anwalt, als er die Interessen mehrerer großer Bergwerksgesellschaften vertrat. Daher könnte es eine gute Idee sein, nach der Basis seiner neuen Besorgnis zu forschen.


Der Tag von Bhumkal: Von Angesicht zu Angesicht mit ”Indiens größter Bedrohung der inneren Sicherheit”.

In den vergangenen fünf Jahren oder so haben die Regierungen von Chhattisgarh, Jharkhand, Orissa und Westbengalen hunderte Vereinbarungen mit großen internationalen Gesellschaften unterzeichnet im Werte von mehreren Milliarden Dollar, die alle geheim sind, für Stahlwerke, Schwammeisen-Fabriken, Kraftwerke, Aluminium-Raffinerien, Dämme und Bergwerke. Damit sich die Veträge in echtes Geld verwandeln, müssen die Stammesvölker entfernt werden.

DESHALB DIESER KRIEG

Wenn ein Land, das sich selbst als Demokratie bezeichnet, offen Krieg erklärt innerhalb seiner eigenen Grenzen, wie sieht dann ein solcher Krieg aus? Hat der Widerstand eine Chance? Sollte er sie haben? Wer sind die Maoisten? Sind sie einfach nur gewalttätige Nihilisten, die einer veralteten Ideologie über Stammesvölker anhängen und sie in einen hoffnungslosen Aufstand treiben? Welche Lehren haben sie aus ihren vergangenen Erfahrungen gezogen? Ist bewaffneter Widerstand dem Wesen nach undemokratisch? Ist die Sandwich-Theorie – 'gewöhnliche' Stammesvölker, gefangen im Kreuzfeuer zwischen dem Staat und den Maoisten – korrekt? Sind die 'Maoisten' und die 'Stammesmenschen' zwei völlig getrennte Kategorien, wie es dargestellt wird? Fallen ihre Interessen zusammen? Haben sie irgendetwas voneinander gelernt? Haben sie einander verändert?

Am Tag vor meiner Abfahrt rief meine Mutter an und klang müde. „Ich habe nachgedacht”, sagte sie mit dem eigenartigen Instinkt einer Mutter,  „was dieses Land braucht, das ist eine Revolution.”

Ein Artikel im Internet berichtet, dass Israels Mossad 30 hochrangige indische Polizeioffiziere in der Technik gezielter Morde unterrichtet, um die Maoisten-Organisation 'führungslos' zu machen. In der Presse wurde von der neuen Hardware gesprochen, die von Israel gekauft wurde: Laser-Entfernungsmesser, Wärmebild-Ausrüstung und Dronen, die bei der US-Armee so beliebt sind. Perfekte Waffen, um gegen die Armen verwendet zu werden.

Die Fahrt von Raipur nach Dantewada dauert ungefähr 10 Stunden durch Gebiete, die als 'Maoisten-verpestet' gelten. Das sind keine leichtfertigen Worte. 'Heimsuchen/Verseuchung' impliziert Krankheit/Pest. Krankheiten müssen geheilt werden. Pest muss ausgelöscht werden. Die Maoisten müssen ausgerottet werden. Auf diese schleichende, harmlose Weise ist die Sprache des Genozids in  unser Vokabular gelangt.

Um die Autobahn zu schützen, haben die Sicherheitskräfte einen schmalen Streifen Wald an beiden Seiten „gesichert”. Weiter  drinnen herrschen die 'Dada log'. Die Brüder. Die Genossen.

In den Vororten von Raipur macht eine massive Plakatwand Reklame für das Krebskrankenhaus von Vedanta (eine Firma, für die unser Innenminister einst gearbeitet hat). In Orissa, wo sich das Bauxit -Bergwerk befindet, finanziert Vedanta eine Universität. Auf diese schleichende, unschuldige Weise treten die Bergwerksunternehmen in  unsere Vorstellungswelt: die LIEBEN RIESEN, DIE SICH WIRKLICH KÜMMERN. Es wird CSR, Corporate Social Responsibility (Unternehmerische Gesellschaftsverantwortung) genannt. Das erlaubt den Bergwerksunternehmen, dem legendären Schauspieler und ehemaligen Ministerpräsidenten NTR zu gleichen, dem es Spaß machte, alle Rollen in den Telugu-Sagen zu spielen – die guten und die bösen Menschen, alle auf einmal in ein und demselben Film. CSR verschleiert die ungeheuerliche Wirtschaftspolitik, die dem Bergwerkssektor in Indien zugrundeliegt. Ein Beispiel: Laut dem neuen Lokayukta (Ombudsman)-Bericht für Karnataka erhält die Regierung für jede Tonne Eisenerz, die von einer Privatgesellschaft gefördert wird, eine Royalty von 27 Rs [= 0,45 €] und die Gesellschaft kassiert 5000 Rs [=85 €]. Im Bauxit- und Aluminium-Sektor sind die Zahlen noch schlimmer. Wir sprechen also von Raub am helllichten Tag in einer Größenordnung von Milliarden Dollar. Genug, um Wahlen zu kaufen, Regierungen, Richter, Zeitungen, TV-Kanäle, NGO und Hilfsorganisationen. Was ist dagegen ein Krebskrankenhaus hier und dort?

Ich kann mich nicht entsinnen, den Namen Vedanta auf der langen Liste von Vereinbarungen gesehen zu haben, die von der Chhattisgarh-Regierung unterzeichnet wurden. Aber ich bin gewitzt genug zu vermuten, dass wo  ein Krebshospital liegt, irgendwo in der Nähe auch ein gekappter Bauxit-Berg zu finden ist.

 Wir kommen an Kanker vorbei, berühmt für seine Hochschule für Terrorismusbekämpfung und Dschungelkriegsführung, geleitet von Brigadegeneral B.K. Ponwar, dem Rumpelstilzchen dieses Krieges, damit beauftragt, korrupte, schlampige Polizisten (Stroh) in Dschungelkommandos (Gold) zu verwandeln. „Bekämpft die Guerilla wie ein Guerillero”, ist das Motto der Schule fürs Trainieren der Kriegstechnik und gemalt auf die Felsen. Den Männern wird beigebracht zu rennen, zu rutschen, auf- und abzuspringen von Hubschraubern in der Luft, zu reiten (aus welchen Gründen auch immer), Schlangen zu essen und im Dschungel zu überleben. Der Brigadegeneral ist mächtig stolz, Straßenköter darauf zu trainieren, „Terroristen” zu bekämpfen. Achthundert Polizisten machen alle sechs Wochen ihren Abschluss auf dieser Schule für Kriegstechnik. Zwanzig ähnliche Schulen sind in ganz Indien geplant. Die Polizei wird allmählich in eine Armee verwandelt. (In Kaschmir läuft es andersrum. Die Armee wird in eine aufgeblasene, administrative Polizei verwandelt.) Alles umgekehrt. Alles umgestülpt. Auf die eine oder andere Art – der Feind ist das Volk.

Es ist spät. Jagdalpur schläft, außer den vielen Plakatwänden von Rahul Gandhi, die die Leute auffordern, sich dem Jugend-Kongress anzuschließen. Er ist zweimal in Bastar gewesen in den vergangenen Monaten, aber hat sich kaum zu dem Krieg geäußert. Es ist wahrscheinlich zu schmutzig für den Prinz des Volkes, sich damit zu befassen. Seine Medien-Manager haben wahrscheinlich auf die Bremse getreten. Die Tatsache, dass Salwa Judum – die gefürchtete, von der Regierung gesponserte Bürgerwehr, die für Vergewaltigungen, Morde, Niederbrennen von Dörfern und Vertreibung von hunderttausenden von Menschen aus ihren Häusern verantwortlich ist – von Mahendra Karma geführt wird, ein Kongress-Mitglied, spielt in der sorgfältig orchestrierten Reklamekampagne für Rahul Gandhi keine große Rolle.

Ich kam in Ma Danteshwari mandir sehr frühzeitig zu meiner Verabredung (am ersten Tage und erstem Treffen). Ich hatte meine Kamera, meine kleine Kokosnuss und einen pulvrigen roten Tika auf meiner Stirn. Ich fragte mich, ob mich jemand beobachtet und sich kaputt lacht. Innerhalb weniger Minuten kam ein Junge auf mich zu. Er hatte eine Kappe und eine Schulrucksack auf dem Rücken. Abgeplatzten roten Nagellack an seinen Fingern. Kein Hindi Outlook, keine Bananen. ”Bist du diejenige, die reingeht?” fragte er mich. Kein Namashkar Guruji. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Er holte einen aufgeweichten Zettel aus seiner Hosentasche und gab ihn mir.Da hieß es: „Outlook nahin mila. (Konnte kein Outlook finden)”

„Und die Bananen?”

„Habe ich gegessen”, sagte er, „ich bin hungrig geworden.”

Er war wirklich ein Sicherheitsrisiko.

Auf seinem Rucksack stand Charlie Brown – Nicht dein gewöhnlicher Dummkopf‘. Er sagte, er heiße Mangtu. Ich lernte schnell, dass Dandakaranya, der Wald, in den ich dabei war einzudringen, voller Leute war, die viele Namen hatten und fließende Identitäten. Das war wie Balsam für mich, die Idee. Wie schön, nicht immer auf dich selbst festgenagelt zu sein, sondern gelegentlich ein anderer zu sein.

Wir liefen zur Bushaltestelle, die nur wenige Minuten vom Tempel entfernt lag. Es waren schon eine Menge Menschen da. Alles geschah sehr schnell. Zwei Männer mit Motorrädern standen bereit. Es gab keine Unterhaltung – nur ein Blick der Bestätigung, eine Verlagerung des Körpergewichts, das Aufheulen der Maschinen. Ich hatte keine Ahnung, wohin wir fuhren. Wir fuhren am Haus des Superintendenten der Polizei (SP) vorbei, das ich von meinem letzten Besuch wiedererkannte. Er war ein aufrichtiger Mann, der SP: „Sehen Sie, Madame, ehrlich gesagt kann dieses Problem nicht von uns Polizisten oder Soldaten gelöst werden. Das Problem mit diesen Stammesleuten ist, dass sie nicht wissen, was Habgier ist. Solange sie nicht habgierig werden, gibt es für uns keine Hoffnung. Ich habe meinem Boss gesagt, er solle die Polizei abziehen und stattdessen in jedes Haus einen Fernseher stellen. Alles würde sich automatisch lösen.”

In einem Nu waren wir außerhalb der Stadt. Keine Beschattung. Es war eine lange Fahrt, drei Stunden nach meiner Uhr. Sie endete ganz plötzlich in der Mitte von nirgendwo, auf einer leeren Straße  mit Wald auf beiden Seiten. Mangtu stieg ab. Ich auch. Die Motorräder verschwanden. Und ich nahm meinen Rucksack und folgte dem kleinen internen Sicherheitsrisiko in den Wald. Es war ein wundervoller Tag. Der Waldboden war ein Teppich aus Gold.

Nach einer Weile tauchten die weißen, sandigen Ufer eines breiten, flachen Flusses auf. Er wurde offenbar vom Monsun gespeist, weswegen er jetzt mehr oder weniger eine Sandebene war und in der Mitte eine knöcheltiefe Wasserrinne, die man leicht durchwaten konnte. Auf der anderen Seite lag 'Pakistan'. „Dort drüben, Madame”, hatte der freimütige SP gesagt, „schießen meine Jungs, um zu töten.” Daran musste ich denken, als wir begannen hinüberzugehen. Ich sah uns im Fadenkreuz eines Polizeigewehres als winzige Figuren mitten in der Landschaft, leicht umzulegen. Aber Mangtu schien völlig unberührt, und ich richtete mich nach ihm.

Am anderen Ufer wartete Chandu in einem lindgrünen Hemd, auf dem Horlicks! stand. Ein kaum älteres Sicherheitsrisiko. Vielleicht zwanzig. Er hatte ein hübsches Lächeln, ein Fahrrad, einen Kanister mit gekochtem Wasser und viele Päckchen Glukose-Kekse für mich von der Partei. Wir verschnauften und begannen wieder zu wandern. Das Fahrrad war, wie sich herausstellte, ein Ablenkungsmanöver. Der Weg war beinahe vollständig unbefahrbar. Wir kletterten steile Hänge hinauf und kraxelten steinige Pfade hinunter, an ein paar heiklen Abhängen entlang. Wenn Chandu das Fahrrad nicht schieben konnte, dann trug er es über dem Kopf, als würde es nichts wiegen. Ich wunderte mich über sein verträumtes Aussehen eines Dorfjungens. Ich entdeckte (viel später), dass er mit jeder Art Waffe umgehen konnte, „außer mit einem LMG [leichtes schwedisches Maschinengewehr“ D.Ü.], verkündete er fröhlich.

Drei schöne berauschte Männer mit Blumen in ihren Turbanen liefen eine halbe Stunde mit uns, bevor ihr Weg abzweigte. Bei Sonnenuntergang begannen ihre Schultertaschen zu krähen. Sie hatten junge Hähne da drinnen, die sie zum Markt gebracht hatten, aber nicht verkaufen konnten.

Chandu schien in der Lage zu sein, im Dunklen zu sehen. Ich musste meine Taschenlampe benutzen. Die Grillen begannen zu zirpen, und bald war es ein ganzes Orchester, ein Klanggewölbe über uns. Ich sehne mich, in den Nachthimmel zu schauen, aber ich traue mich nicht. Ich muss meinen Blick auf den Boden richten. Einen Schritt vor den anderen. Konzentriert.

Ich höre Hunde. Aber ich kann nicht sagen, wie weit entfernt es ist. Das Gelände wird flacher. Ich stehle mir einen Blick auf den Himmel. Das macht mich glücklich. Ich hoffe, dass wir bald anhalten werden. „Bald”, sagt Chandu. Es stellt sich heraus, dass es mehr als eine Stunde dauert. Ich sehe Silhouetten von riesigen Bäumen. Wir sind da.

Das Dort scheint weitläufig zu sein, mit weit auseinandergezogenen Häusern. Das Haus, das wir betreten, ist wunderschön. Es gibt ein Feuer, um das alle herumsitzen. Mehr Leute draußen, im Dunklen. Ich kann nicht sagen, wie viele. Ich kann sie nur schwach erkennen. Ich höre Gemurmel. Lal Salaam Kaamraid (Ein roter Gruß, Genossin). Lal Salaam, sage ich. Ich bin hundemüde. Die Frau des Hauses ruft mich nach drinnen und gibt mir Curry-Hühnchen in grünen Bohnen gekocht und mit rotem Reis. Fabelhaft. Ihr Baby schläft neben mir, ihre Silberfußkettchen glitzern im Feuerschein.

Nach dem Abendessen öffne ich meinen Schlafsack. Der große Reißverschluss macht ein zudringliches Geräusch. Jemand schaltet ein Radio an. BBC Hindi-Dienst. Die Kirche von England hat ihre Gelder aus dem Vedanta Niyamgiri Projekt abgezogen, indem sie sich auf Umweltschäden und die Verletzung der Rechte des Dongria Kondh Volkes beruft. Ich kann Kuhglocken hören, ein Schnüffeln und Schlurfen und Viehfürze. Die Welt ist in Ordnung. Ich schließe meine Augen.

Um fünf Uhr stehen wir auf. Um sechs sind wir unterwegs. Nach ein paar weiteren Stunden überqueren wir einen anderen Fluss. Wir wandern durch ein paar wunderschöne Dörfer. Jedes Dorf hat eine Gruppe von Tamarinden-Bäumen, die es beschützen, wie eine Umklammerung durch riesige, wohlmeinende Götter. Süße Bastar Tamarinden. Um 11 Uhr steht die Sonne hoch am Himmel, und das Wandern macht weniger Spaß. Wir halten in einem Dorf, um Mittag zu essen. Chandu scheint die Leute im Haus zu kennen. Ein wunderschönes, junges Mädchen flirtet mit ihm. Er sieht ein wenig schüchtern drein, vielleicht weil ich dabei bin. Das Essen besteht aus roher Papaya mit Masoor Dal und rotem Reis. Und rotem Chilipulver. Wir warten darauf, dass die Sonne etwas von ihrer Kraft verliert, bevor wir weiterwandern. Wir schlummern ein wenig in einem kleinen Pavillon. Es liegt eine strenge Schönheit über dem Ort. Alles ist sauber und notwendig. Kein Müll. Eine schwarze Henne stolziert hin und her an einer niedrigen Lehmmauer entlang. Ein Bambusgitter stabilisiert die Dachsparren des reetgedeckten Daches und dient gleichzeitig als Ablage. Es gibt einen Grasbesen, zwei Trommeln, einen geflochtenen Reetkorb, einen zerbrochenen Regenschirm und einen ganzen Haufen von zusammengefalteten, leeren Wellpappschachteln. Etwas fesselt mein Auge. Ich brauche meine Brille. Und dies steht gedruckt auf der Pappe: Ideal Power 90 High Energy Emulsion Explosive (Class-2) SD CAT ZZ [ein hochexplosives Gemisch – siehe www.exploenergy.com/  D.Ü.].

Gegen 14 Uhr machen  wir uns wieder auf den Weg. Im nächsten Dorf sollen wir eine Didi (Schwester, Genossin) treffen, die die nächste Etappe der Reise kennt. Das weiß Chandu nicht. Informationen werden sparsam verteilt. Niemand darf alles wissen. Aber als wir das Dorf erreichen, ist die Didi nicht da. Es gibt keine Nachricht über sie. Zum ersten Mal sehe ich eine kleine Wolke von  Unruhe über Chandus Gesicht gleiten. Eine größere hüllt mich ein. Ich weiß nicht, wie das Kommunikationssystem aussieht, aber was ist, wenn etwas falsch gelaufen ist?


Strenge Schönheit: Töpfe, Gewehre, Jhillies … Alles in diesen Dörfern ist sauber und notwendig.

Wir warteten bei einer verlassenen Zementschule, ein Stück außerhalb des Dorfes. Warum sind alle Regierungsdorfschulen wie Betonfestungen gebaut, mit Stahlfensterläden und Stahlfalttüren auf Schienen?  Warum nicht wie die Dorfhäuser aus Lehm und Reet? Weil sie auch als Barracken und Bunker dienen sollen. „In den Dörfern von Abujhmad”, sagt Chandu, „werden sie so gebaut ...” Und er zeichnet einen Bauplan mit einem Zweig in den Sand. Drei Achtecke, die wie Honigwaben miteinander verbunden sind. „Damit sie in alle Richtungen schießen können.” Er zeichnet Pfeile ein, um dies zu illustrieren, wie  eine Cricket-Graphik— das Wagenrad eines Schlagmanns. „Es gibt keine Lehrer in keiner der Schulen“, sagt Chandu. „Sie sind alle abgehauen. „Oder habt ihr sie davongejagt? „Nein, wir jagen nur Polizisten. Aber warum sollten die Lehrer hierherkommen, in den Dschungel, wenn sie ihr Gehalt auch bekommen, wenn sie zuhause sitzen?“ Völlig richtig.

Er berichtet mir, dass dies ein  „neues Gebiet” sei. Die Partei ist erst seit kurzem hierhergekommen.

Etwa zwanzig junge Leute treffen ein, Jungen und Mädchen. Teenager und manche Anfang 20. Chandu erklärt, dass dies die Miliz auf Dorfebene sei, der niedrigste Rang der maoistischen Militär-Hierarchie. Ich habe niemals so etwas wie sie zuvor gesehen. Sie haben Saris und Lungis an, manche haben ausgefranste, olivgrüne Tarnanzüge an. Die Jungens tragen Schmuck auch auf dem Kopf. Jeder von ihnen hat ein Vorderladergewehr, das Bharmaar genannt wird. Manche haben auch Messer, Äxte, Pfeil und Bogen. Ein Junge schleppt einen primitiven Mörser, der aus einem schweren meterlangen Stahlrohr gefertigt ist. Es ist gefüllt mit Gewehrpulver, mit Schrapnellen gestopft und bereit, abgefeuert zu werden. Er macht großen Lärm, kann aber nur einmal benutzt werden. Aber es jagt den Polizisten einen Schrecken ein, sagen sie und kichern. Der Krieg scheint in ihren Köpfen nicht an erster Stelle zu stehen. Vielleicht weil ihr Gebiet außerhalb der Operationsbasis von Salwa Judum liegt. Sie haben gerade ihr Tagewerk beendet – sie haben geholfen, Zäune um einige Dorfhäuser zu bauen, um die Ziegen von den Gärten fernzuhalten. Sie sind voller Späße und Neugier. Die Mädchen sind selbstbewusst und locker mit den Jungs. Ich habe ein Gespür für solche Dinge, und ich bin beeindruckt. Ihre Aufgabe, sagt Chandu, ist es, Patrouille zu gehen und vier oder fünf Dörfer zu schützen, bei der Feldarbeit zu helfen, Brunnen zu reinigen oder Häuser zu reparieren – all das  zu tun, was notwendig ist.

Immer noch keine Didi. Was sollen wir tun? Nichts. Warten. Ein bisschen beim Hacken und Schälen helfen.

Nach dem Abendessen stellen sich alle ohne großes Gerede in einer Reihe auf.  Offensichtlich brechen wir auf. Und alles wird mitgenommen: der Reis, das Gemüse, die Töpfe und Pfannen. Wir verlassen das Schulgelände und wandern hintereinander in den Wald. In weniger als einer halben Stunde kommen wir auf eine Lichtung, wo wir uns zum Schlafen hinlegen. Es gibt nicht das geringste Geräusch. Innerhalb von Minuten hat jedermann sein blaues Plastiktuch ausgebreitet, das allgegenwärtige 'Jhilli' (ohne welches es keine Revolution geben wird). Chandu und Mangtu teilen sich eins und breiten auch eins für mich aus. Sie finden den besten Platz für mich, neben dem besten grauen Stein. Chandu sagt, er habe an Didi eine Botschaft geschickt. Wenn sie die bekommt, wird sie morgen in aller Frühe hier sein. Wenn sie die bekommt.

Es ist das schönste Zimmer, in dem ich seit langem geschlafen habe. Meine Privat-Suite in einem Tausend-Sterne-Hotel. Ich bin umgeben von diesen eigenartigen, wunderschönen Kindern mit ihren merkwürdigen Waffen. Sie sind natürlich alle Maoisten. Werden sie wohl sterben? Ist der Dschungel die Schule zum Training des Kriegshandwerks für sie? Und die Kampfhubschrauber, die Wärmebilder und die Entfernungsmesser?

Warum müssen sie sterben? Wofür? Um all dies in ein Bergwerk zu verwandeln? Ich erinnere mich an meinen Besuch in einem Tagebau-Eisenbergwerk in Keonjhar, Orissa. Dort hatte es auch einst Wald gegeben. Und Kinder wie diese. Jetzt sieht das Land wie eine rohe, rote Wunde aus. Roter Staub dringt in Nase und Lungen. Das Wasser ist rot, die Luft ist rot, die Menschen sind rot, ihre Lungen und Haare sind rot. Den ganzen Tag und die ganze Nacht brummen die Lastwagen durch ihre Dörfer, Stoßstange an Stoßstange, tausende und tausende Lastwagen, die Eisenerz zum Hafen  von Paradip bringen, von wo es nach China geht. Dort wird es sich in Autos verwandeln und Rauch und abrupte Städte, die über Nacht aus dem Boden schießen. In einer Wachstumsrate, die Ökonomen atemlos macht. In Waffen, um Krieg zu machen.

Alle schlafen, außer den Wachen, die nach je 1 ½ Stunden abgelöst werden. Endlich kann ich die Sterne betrachten. Als ich Kind war,  das an den Ufern des Meenachal-Flusses aufwuchs, dachte ich mir immer, dass das Zirpen der Grillen – das immer in der Dämmerung einsetzte – das Geräusch der Sterne wäre, die hochschossen, um für uns zu scheinen. Ich bin überrascht, wie sehr es mir gefällt, hier zu sein. Es gibt keinen Platz in der Welt, wo ich lieber wäre. Wer soll ich heute Nacht sein? Kamraid Rahel, unter den Sternen? Vielleicht wird Didi morgen hier sein.

Sie kommen am frühen Nachmittag. Ich kann sie schon von weitem sehen. Etwa 15 Leute, alle in olivgrünen Uniformen, die uns entgegenrennen. Selbst aus der Entfernung kann ich sagen, dass das die wichtigen Leute sind. Die People's Liberation Guerilla Army (PLGA = Volksbefreiungsguerilla-armee). Für sie sind die Wärmebildkameras und die lasergesteuerten Gewehre da. Und für sie auch die Dschungelkriegsschule.

Sie tragen richtige Gewehre, INSAS, SLR, zwei haben die AK-47.  Die Führer der Einheit ist Genosse Madhav, der schon mit 9 Jahren Mitglied der Partei wurde. Er kommt aus Warangal, Andhra Pradesh. Er ist außer sich und entschuldigt sich vielmals. Es hat ein größeres Missverständnis gegeben, sagt er wieder und wieder, das normalerweise nicht vorkommt. Ich sollte schon am ersten Tag im Hauptlager gewesen sein. Irgendwer hat die Staffel in dem Dschungellauf verloren. Das Motorrad hätte mich an einer ganz anderen Stelle absetzen sollen. „Wir haben dich warten und so viel laufen lassen. Wir sind die ganze Strecke gerannt, als wir hörten, dass du hier bist.” Ich sagte, mir ginge es gut, und dass ich vorbereitet gewesen sei, zu warten und zu laufen und zuzuhören. Er wollte, dass wir sofort aufbrechen, weil die Leute im Lager warteten und sich Sorgen machten.

Es ist ein Marsch von ein paar Stunden zu dem Lager. Es wird dunkel, als wir ankommen. Es gibt in Abständen mehrere Wachen und konzentrische Kreise mit Patrouillen. Es müssen etwa hundert Genossen in zwei Reihen aufgestellt sein. Jeder hat eine Waffe. Und ein Lächeln. Sie beginnen zu singen: Lal la salaam, lal lal salaam, aane vaale saathiyon ko lal lal salaam (einen roten Gruß für die Genossen, die gekommen sind). Es wird sanft gesungen, als ob es ein Volkslied über einen Fluss oder eine Waldblume wäre. Mit dem Lied, der Begrüßung, dem Händeschütteln und der geballten Faust. Jeder begrüßt jeden und murmelt Laslaam, mlalslaam mlalslaam …

Außer einem großen blauen auf dem Boden ausgebreiteten jhilli von etwa 5 Quadratmetern gibt es kein Anzeichen von einem 'Lager'. Dies hat auch ein jhilli-Dach. Entweder wurde ich belohnt für meine Tage des Wanderns oder im Voraus verhätschelt für das, was noch vor  uns lag. Oder beides. Jedenfalls war es das letzte Mal, dass ich auf der ganzen Reise ein Dach über meinem Kopf hatte. Beim Abendessen treffe ich die Genossin Narmada, die für Krantikari Adivasi Mahila Sangathan (KAMS) verantwortlich ist, und auf deren Kopf ein Preis ausgesetzt ist; Genossin Saroja von der PLGA, die gerade mal so groß ist wie ihr SLR; Genossin Maase (was auf Gondi Schwarzes Mädchen bedeutet), und auf die ebenfalls ein Kopfgeld ausgesetzt ist; Genosse Rupi, das Techno-Genie; Genossin Raju, die verantwortlich für das Gebiet ist, durch das ich gekommen bin; und den Genossen Venu (oder Murali oder Sonu oder Sushi, wie immer man ihn nennen will), eindeutig die Ältesten von allen. Vielleicht vom Zentralkomitee, vielleicht vom Politbüro. Das wird mir nicht gesagt, und ich frage nicht. Unter uns sprechen wir Gondi, Halbi, Telugu, Punjabi und Malayalam. Nur Maase spricht Englisch. (Deswegen kommunizieren wir alle in Hindi!) Genossin Maase ist groß und ruhig und scheint durch eine Schicht von Schmerzen schwimmen zu müssen, wenn sie ein Gespräch beginnt. Aber von der Art, wie sie mich umarmt, kann ich sagen, dass sie eine Leserin ist. Und dass sie es vermisst, im Dschungel keine Bücher zu haben. Sie wird mir ihre Geschichte später erzählen. Als sie mir  ihren Kummer anvertraut.

Schlechte Nachrichten kommen -  das ist üblich in diesem Dschungel. Ein Läufer mit 'Biskuits'. Handgeschriebene Notizen auf Zetteln, die gefaltet und zu kleinen rechteckigen Haufen gestapelt werden. Es gibt eine Tasche voll solcher Zettel. Wie Chips. Nachrichten von überall her. Die Polizei hat fünf Leute im Dorf Ongnaar getötet, vier von der Miliz und einen Dorfbewohner: Santhu Pottai (25), Phoolo Vadde (22), Kande Pottai (20), Ramoli Vadde (20), Dalsai Koram (22). Sie hätten die Kinder sein können in meinem Schlafzimmer mit den Sternen in der vergangenen Nacht.

Dann kommen die guten Nachrichten. Eine kleine Gruppe von Leuten mit einem molligen jungen Mann. Sie haben auch Tarnanzüge an, die nagelneu aussehen. Jeder bewundert sie und kommentiert den Schnitt. Er sieht schüchtern aus und zufrieden. Er ist Arzt, der gekommen ist, um mit den Genossen im Wald zu leben und zu arbeiten. Das letzte Mal, dass ein Arzt Dandakaranya besuchte, liegt viele Jahre zurück.


Mitglieder der Chetna Natya Manch, der Kulturabteilung der Partei, warten in den 'Kulissen'.

Im Radio gibt es Meldungen über das Treffen des Innenministers mit den Premiers jener Staaten, die vom 'Links-Extremismus betroffen sind'. Die Premiers von Jharkand und Bihar sind betont zurückhaltend und sind nicht gekommen. Alle, die um das Radio herumsitzen, lachen. Zu Wahlzeiten, sagen sie, und während der gesamten Kampagne und vielleicht noch einen oder zwei Monate nachdem die Regierung gebildet worden ist, sagen die Mainstreampolitiker immer Sachen wie „die Naxals sind unsere Kinder”. Aber du kannst die Uhr danach stellen, wenn sie anfangen, ihre Meinung zu ändern und Reißzähne zu bekommen.

Ich werde der Genossin Kamla vorgestellt. Mir wird gesagt, dass ich unter keinen Umständen auch nur fünf Schritte von meinem jhilli mich entfernen darf, ohne sie zu wecken. Weil in der Dunkelheit jeder die Orientierung verliert und sich ernsthaft verirren kann. (Ich wecke sie nicht. Ich schlief wie ein Murmeltier.) Am Morgen gibt mir Kamla eine gelbe Plastikpackung, an der eine Ecke abgeschnitten ist. Es enthielt einmal Abis Gold Refined Soya Oil. Jetzt ist es mein Nachttopf. Nichts wird verschwendet auf dem Weg zur Revolution.

(Selbst jetzt denke ich dauernd zu an Genossin Kamla, jeden Tag. Sie ist 17. Sie trägt eine handgefertigte Pistole an der Hüfte. Und Mann-o-Mann, was für ein Lächeln. Aber wenn sie der Polizei über den Weg läuft, wird sie getötet. Vielleicht wird sie vorher noch vergewaltigt. Es werden keine Fragen gestellt. Weil sie eine Innere Sicherheitsbedrohung ist.)

Nach dem Frühstück wartet Genosse Venu (Sushil, Sonu, Murali) auf mich sitzend auf dem jhilli und sieht wirklich wie ein schmächtiger Dorfschullehrer aus. Ich bekomme Geschichtsunterricht. Oder genauer gesagt,  eine Unterrichtsstunde über die vergangenen 30 Jahre in den Dandakaranya-Wäldern, die in dem Krieg kulminierte, der jetzt über sie hinwegfegt. Sicherlich ist es eine parteiische Version. Aber welche Art Geschichte ist es nicht? Auf jeden Fall muss die geheime Geschichte öffentlich gemacht werden, damit sie beantwortet und diskutiert werden kann, statt darüber zu lügen, wie es  jetzt dauernd geschieht.

Genosse Venu hat eine stille, beruhigende Art und eine zarte Stimme, die in den kommenden Tagen in einem Zusammenhang auftauchen wird, der  mich völlig aus der Fassung bringen wird. An diesem Morgen spricht er mehrere Stunden lang, fast ununterbrochen. Er ist wie ein kleiner Lagerverwalter, der einen riesigen Schlüsselbund hat, mit denen er ein Labyrinth von Fächern voller Geschichten, Liedern und Einsichten öffnet. Genosse Venu gehörte zu einem der sieben bewaffneten Trupps, die den Godavani-Fluss überquerten, um im Juni 1980, also vor 30 Jahren, von Andhra Pradesh in die Dandakaranya-Wälder (DK in der Parteisprache) zu kommen. Er ist einer von den ursprünglichen 49-ern. Er gehörte zur People's War Group (PWG = Kriegsgruppe des Volkes), eine Abspaltung der Communist Party of India (Marxist-Leninist) oder CPI(ML), den ursprünglichen Naxaliten. Die PWG wurde im April jenes Jahres  formell als eine getrennte, unabhängige Partei erklärt unter Kondapalli Seetharamiah. Die PWG hatte sich entschlossen, eine stehende Armee aufzubauen, wofür sie eine Basis brauchte. DK sollte diese Basis werden, und diese ersten Trupps wurden hineingeschickt, um das Gebiet zu rekognoszieren und mit dem Prozess zu beginnen, Guerillazonen einzurichten. Die Debatte darüber, ob kommunistische Parteien eine stehende Armee haben sollten, und ob eine 'Volksarmee' oder nicht, ist ein Widerspruch in sich und ein sehr alter. Die Entscheidung der PWG, eine Armee aufzustellen auf Basis ihrer Erfahrung in Andhra Pradesh, wo ihre Kampagne 'Land to the Tiller' (das Land dem Bauern) zur direkten Konfrontation mit den Großgrundbesitzern führte und in der Art von Polizeirepression resultierte, der die Partei nichts entgegensetzen konnte, ohne eigene ausgebildete Kampfkräfte.

(2004 war die PWG mit anderen CPI(ML)-Fraktionen, der Party Unity (PU = Partei-Einheit) und dem Maoist Communist Centre (MCC = maoistisches, kommunistisches Zentrum) verschmolzen – die größtenteils in Bihar und Jharkand wirkten, um das zu werden, was sie jetzt ist, die Communist Party of India – Maoist.)

Dandakaranya ist ein Teil dessen, was das britische, nach Art des weißen Mannes, Gondwana, Land der Gonds, genannt wurde. Heute durchschneiden die staatlichen Grenzen von Madhya Pradesh, Chhattisgarh, Orissa, Andhra Pradesh und Maharashtra den Wald. Es ist ein alter Trick, ein unruhiges Volk auf verschiedene administrative Einheiten aufzuteilen. Aber diese Maoisten und maoistischen Gonds kümmern sich nicht groß um solche Dinge wie staatliche Grenzen. Sie haben andere Karten im Kopf, und wie die anderen Lebewesen im Wald haben sie ihre eigenen Wege. Für sie sind die Straßen nicht dazu da, um darauf zu laufen. Sie sind nur zum überqueren da oder, was zunehmend der Fall ist, um Hinterhalte zu legen. Obwohl die Gonds (unterteilt in die Koya and Dorla-Stämme) bei weitem den größten Anteil haben, gibt es doch auch kleine Siedlungen anderer Stammesgemeinden. Die nicht-adivasi Gemeinden, Händler und Siedler, leben an den Rändern des Waldes, nahe den Straßen und Märkten.

Die PWG  waren nicht die ersten Missionare in Dandakaranya. Baba Amte, der bekannte Gandhi-Anhänger, hatte sein Aschram und Lepra-Krankenhaus 1975 in Warora eröffnet. Die Ramakrishna Mission hatte  begonnen, Dorfschulen in den entfernten Wäldern von Abujhmad zu eröffnen. Im Norden Bastars hatte Baba Bihari Das seinen aggressiven Versuch gestartet, „die Stammesvölker in den Hindu-Schoß zurückzubringen“, was mit einer Kampagne verbunden war, die Stammeskultur herabzuwürdigen, Selbst-Hass zu erzeugen und das größte Gift des Hinduismus einzuführen – das Kastenwesen. Die ersten Konvertiten, die Dorfhäupter und Großgrundbesitzer – Leute wie Mahendra Karma, den Gründer von Salwa Judum – erhielten den Status von Dwij, Wiedergeborene,  Brahminen. (Das war natürlich eine Art Betrug, weil niemand ein Brahmine werden kann. Wenn das ginge, wären wir heute eine Nation von Brahminen.) Aber dieser gefälschte Hinduismus wird natürlich als gut genug für die Stammesvölker angesehen, genau wie alle anderen gefälschten Marken – Biskuits, Seifen, Streichhölzer, Öl – die auf den Dorfmärkten verkauft werden. Als Teil der Hindutva-Werbefeldzugs wurden die Namen der Dörfer geändert in Katasternamen, weshalb die meisten jetzt zwei Namen haben, die Namen des Volkes und die Regierungsnamen. Aus dem Dorf Innar zum Beispiel wurde Chinnari. Auf Wahllisten wurden die Stammesnamen in Hindu-Namen umgewandelt. (Massa Karma wurde Mahendra Karma.) Jene, die sich nicht der Hindu-Gemeinde anschlossen, wurden zu 'Katwas' erklärt (womit man 'Unberührbare' meinte), die später die natürlichen Verbündeten der Maoisten wurden.

Die PWG begann zuerst im Süden Bastars und Gadchirolis zu arbeiten. Genossin Venu beschreibt jene ersten Monate mit einiger Ausführlichkeit: Wie misstrauisch die Dörfler ihnen gegenüber waren und sie nicht in ihre Häuser ließen.  Niemand bot ihnen Nahrung oder Wasser an. Die Polizei verbreitete Gerüchte, dass sie Diebe wären. Die Frauen versteckten ihren Schmuck in der Asche ihrer Holzöfen. Die Unterdrückung war außerordentlich. Im November 1980 eröffnete die Polizei in Gadchiroli das Feuer auf eine Dorfversammlung und tötete eine ganze Miliz-Kolonne. Das war die erste tödliche Begegnung [‘encounter’ killing: encounter kann viel bedeuten. Ein militärisches Treffen, Einfangen von Leuten mit anschließendem Erschießen der Leute beim 'Fluchtversuch usw. .Ü]  in DK. Es war ein traumatischer Rückschlag. Die Genossen zogen sich über den Godavari zurück  und gingen wieder nach Adilabad. Aber 1981 kehrten sie wieder. Sie begannen die Stammesvölker zu organisieren, um eine Preiserhöhung für die Tendublätter zu verlangen (aus denen die Bidis  gemacht werden) [sehr dünne spezielle indische Zigaretten. D.Ü.]

Damals bezahlten die Händler drei Paise [1 Rupie sind 100 Paise; 1 € = 60,202 INR 100 INR = 1,6611 €] für ein Bündel von ca. 50 Blättern. Es war eine enorme Arbeit, die Leute zu organisieren, die überhaupt nicht vertraut mit dieser Art Politik sind, und sie in einen Streik zu führen. Am Ende war der Streik erfolgreich, und der Preis wurde verdoppelt auf sechs Paise pro Bündel. Aber der wirkliche Erfolg für die Partei war, in der Lage gewesen zu sein, den Wert der Einheit zu zeigen und einen neuen Weg, politische Verhandlungen zu führen. Heute, nach mehreren Streiks und viel Agitation ist der Preis für ein Bündel auf 1 Rupie gestiegen. (Dieses Tempo scheint etwas unwahrscheinlich zu sein, aber der Umschlag im Tendu-Geschäft geht in die hunderte von Crore Rupien [1 Crore = 10 Millionen D.Ü.]. In jeder Saison lanciert die Regierung Ausschreibungen und gibt den Vertragshändlers die Erlaubnis, ein bestimmtes Volumen von Tendublättern einzutreiben – gewöhnlich zwischen 1500 und 5000 Standard-Säcke, genannt manak boras. Jeder manak bora enthält 1000 Bündel. (Natürlich gibt es keine Möglichkeit sicherzustellen, dass die Vertragshändler nicht mehr als erlaubt herausziehen.) Sobald die Tendublätter auf den Markt kommen, werden sie kiloweise verkauft. Die gerissene Arithmetik und das durchtriebene System des Messens, das die Bündel in manak boras und dann in Kilos verwandelt, wird von den Kontrakthändlern kontrolliert und lässt genügend Spielraum für Manipulationen der übelsten Art. Die konservativste Schätzung legt ihren Profit pro Standardsack auf etwa 1100 Rupien fest. (Nachdem sie der Partei eine Kommission von 120 Rupien pro Sack bezahlt haben.) Selbst bei dieser Schätzung macht ein kleiner Händler (1500 Säcke) einen Gewinn von 16 lakh Rupien [1 lakh = 100 000] pro Saison und ein großer (5000 Säcke) macht bis 55 lakh Rupien pro Saison. Eine mehr realistische Schätzung würde das Vielfache dieses Betrages sein. Doch die größte Interne Sicherheitsbedrohung verdient gerade genug, um bis zur nächsten Saison zu überleben.


Eine Tranztruppe von verschiedenen Janatana Sarkars tritt am Bhumkal-Tag auf. Der Bhumkal war die siebente und letzte Aufstandsbewegung gegen die britische Kolonialherschaft im damaligen Fürstenstaate Bastar, der seit 1888 unter direkter britischer Herrschaft stand. Der Aufstand von Februar bis Mitte Mai 1910 wurde hauptsächlich von Adivasi, Angehörigen der indigenen Stämme (tribals) getragen.

Wir werden von Gelächter unterbrochen und dem Anblick von Nilesh, einer der jungen PLGA-Genossen, der auf das Koch-Gelände zurennt und sich selbst schlägt. Als er näher kommt, sehe ich, dass er ein laubgrünes Nest von erbosten roten Ameisen trägt, die überall auf ihm herumkrabbeln und sich in seine Arme und seinen Nacken verbeißen. Nilesh lacht ebenfalls. „Hast du jemals Ameisen-Chutney gegessen?“ fragt mich Genossin Venu. Ich kenne rote Ameisen gut aus meiner Kindheit in Kerala – ich bin von ihnen gebissen worden, aber ich habe sie nie gegessen. (Das Chapoli stellt sich als gut heraus. Säuerlich. Sehr viel Folsäure.)

Nilesh kommt aus Bijapur, das im Zentrum der Salwa Judum-Operationen liegt. Der jüngere Bruder von Nilesh hat sich der Judum auf einer von deren Plünder- und Brennunternehmungen angeschlossen und wurde zu einem Special Police Officer (SPO) gemacht. Er lebt im Basaguda Camp mit seiner Mutter. Sein Vater weigerte sich zu gehen und blieb in dem Dorf zurück. Es ist wirklich eine Familien-Blutfehde. Später, als ich eine Gelegenheit fand, mit ihm zu sprechen, fragte ich Nilesh, warum sein Bruder das gemacht hatte. „Er war sehr jung“, sagte Nilesh, „er bekam die Gelegenheit, zu verwildern, Leute zu verletzen und Häuser anzuzünden. Er wurde verrückt, er tat furchtbare Dinge. Jetzt sitzt er fest. Er kann niemals mehr ins Dorf zurückkommen. Ihm wird nicht verziehen werden. Und er weiß das.“

Wir kehren zum Geschichtsunterricht zurück. Der nächste große Kampf der Partei war, erzählt Venu, gegen die Papiermühle Ballarpur. Die Regierung hatte den Thapars einen Vertrag über 45 Jahre gegeben, 1. 5 lakh Tonnen Bambus zu einem wahnsinnig subventionierten Preis zu ernten. (Kleine Fische im Vergleich zu Bauxit, aber immerhin.) Den Stammesleuten wurden 10 paise pro Bündel, die 20 Bambusstangen enthielten, bezahlt. (Ich gebe nicht der vulgären Versuchung nach, dies mit den Profiten zu vergleichen, die die Thapars machten.) Eine lange Agitation, ein Streik, gefolgt von Verhandlungen mit den Chefs der Papiermühle in Gegenwart des Volkes, verdreifachte den Preis auf 30 paise pro Bündel. Für die Stammesleute war das eine enorme Errungenschaft. Andere politische Parteien hatten Versprechungen gegeben, aber nicht das geringste Anzeichen gemacht, sie zu halten. Dann waren die Leute an die PWG herangetreten, um sie zu fragen, ob sie mitmachen wollten.

Aber die Politik von Tendu, Bambus und anderen Waldprodukten war saisonal. Das ewige Problem, der eigentliche Fluch des Lebens der Leute war der größte Grundbesitzer von allen, das Forstministerium. Jeden Morgen kamen Forstbeamte, selbst die  jüngsten von ihnen, in die Dörfer wie ein böser Traum und  hinderten die Leute daran, ihre Felder zu pflügen, Feuerholz zu sammeln, Blätter zu pflücken, Früchte zu sammeln, ihr Vieh zu weiden, ganz einfach am Leben. Sie brachten Elefanten mit, um die Felder niederzutrampeln und streuten im Vorübergehen Babool-Samen (von duftenden Akazien), um den Boden zu zerstören. Die Leute wurden geschlagen, verhaftet, erniedrigt, ihre Ernten wurden zerstört.  Natürlich waren sie vom Gesichtspunkt der Forstbeamten aus einfach illegale Leute, die illegalen Tätigkeiten nachgingen, und das Forstministerium setzte nur die Einhaltung der Gesetze durch. (Deren sexuelle Ausbeutung der Frauen war nur ein zusätzlicher Leistungsanreiz bei der Verbuchung von Mühsal.)

Ermutigt durch die Teilnahme des Volkes bei diesen Kämpfen, entschloss sich die Partei, dem Forstministerium entgegenzutreten. Sie ermutigte die Leute, Waldland zu übernehmen und es zu kultivieren. Das Forstministerium schlug zurück, indem es die neuen Dörfer, die in den Forstgebieten entstanden, niederbrannte. 1986 richtete es in Bijapur einen Nationalpark ein, was die Beseitigung von 60 Dörfern bedeutete. Mehr als die Hälfte hatten den Wald bereits verlassen müssen, und der Bau der Infrastruktur für den Nationalpark hatte begonnen, als die Partei auf der Bildfläche erschien. Sie zerstörte die begonnenen Bauten und stoppte die Auflösung der übrigen Dörfer. Sie hinderte die Forstbeamten daran, das Gebiet zu betreten. Bei ein paar Gelegenheiten wurden Beamte gefangen, an Bäume gebunden und von den Dörflern verprügelt. Es war eine reinigende Rache für jahrhundertelange Ausbeutung. Schließlich ergriff das Forstministerium die Flucht. Zwischen 1986 und 2000 verteilte die Partei 300 000 Acres [1 ac. = ca. 0,4 ha; 2,5 ac. = 1 ha. D.Ü.] Waldland. Heute, sagt Genosse Venu, gibt es keine landlosen Bauern mehr in Dandakaranya.

Für die heutige Generation junger Menschen ist das Fortministerium nur eine ferne Erinnerung, der Stoff von Geschichten, die Mütter ihren Kindern erzählen über eine mythologische Vergangenheit von Knechtschaft und Erniedrigung. Für die ältere Generation bedeutete die Freiheit von dem Forstministerium echte Freiheit. Zum Anfassen, zum Schmecken. Es bedeutete weit mehr als Indiens Unabhängigkeit jemals bedeutete. Sie begannen, sich um die Partei zu scharen, die mit ihnen gekämpft hatte.

Die sieben Trupps waren weit gekommen. Ihr Einfluss erstreckte sich nun über 60 000 km² Wald, tausende von Dörfern und Millionen von Menschen.

Aber die Flucht des Forstministeriums kündigte die Ankunft der Polizei an. Das setzte den Zyklus des Blutvergießens in Gang. Getürkte 'encounters' seitens der Polizei, Hinterhalte seitens der PWG. Mit der Neuverteilung des Landes traten neue Verantwortlichkeiten auf: Bewässerung, Landwirtschafts-Produktivität und das Problem der wachsenden Bevölkerung, die willkürlich Waldland rodete. Es wurde die Entscheidung getroffen, 'Massenarbeit' von 'Militärarbeit' zu trennen.

Heute wird Dandakaranya durch eine ausgeklügelte Struktur von Janatana Sarkars (Regierungen des Volkes) verwaltet. Die organisatorischen Prinzipien kamen von der chinesischen Revolution und dem Vietnamkrieg.  Jede Janatana Sarkar wird von einer Gruppe von Dörfern gewählt, deren gesamte Bevölkerung zwischen 500 und 5000 Menschen betragen kann. Es hat neun Ressorts: Krishi (Landwirtschaft), Vyapar-Udyog (Handel und Industrie), Arthik (Wirtschaft), Nyay (Justiz), Raksha (Verteidigung), Hospitale (Gesundheit), Jan Sampark (öffentliche Beziehungen), School-Riti Rivaj (Erziehung und Kultur) und Dschungel. Eine Gruppe von Janatana Sarkars bildet ein Gebiets-Komitee. Drei Gebiets-Komitees bilden eine Division. Und es gibt 10 Divisionen in Dandakaranya.

„Wir haben jetzt ein 'Rettet den Dschungel' Ressort,“ sagt Genosse Venu. „Du mußt den Regierungsbericht gelesen haben, der feststellt, dass der Wald in Naxal-Gebieten zugenommen hat?“

Ironischerweise, sagt Genosse Venu, waren die ersten Leute, die von der Kampagne der Partei gegen das Forstministerium profitierten, die Mukhias (Dorfhäupter) – die Dwij Brigade. Sie benutzten ihre Arbeitskräfte und ihre Mittel, um so viel Land wie möglich zu ergattern, solange die Gelegenheit günstig war. Aber dann traten die Leute an die Partei heran mit ihren „inneren Widersprüchen“, wie Genosse Venu es originell ausdrückte. Die Partei richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Probleme von Gleichheit, Klasse und Ungerechtigkeit innerhalb der Stammesgesellschaft. Die Großgrundbesitzer sahen Schwierigkeiten am Horizont hochsteigen. In dem Maße wie der Einfluss der Partei gewachsen war, in dem Maße war ihrer gesunken. Die Leute kamen zunehmend mit ihren Problemen zur Partei statt zu den Mukhias. Alte Formen der Ausbeutung wurden in Frage gestellt. Einen Tage während der ersten Regenfälle wurde traditionell von den Leuten erwartet, das Land des Mukhia umzugraben statt das eigene. Das hörte auf. Sie boten ihm auch nicht mehr das Ergebnis ihres ersten Tages  Pflückarbeit von Mahwa [Madhuca longifolia, Indischer Butterbaum] oder anderen Waldprodukten an. Offensichtlich musste etwas unternommen werden.

Da erscheint Manhendra Kama auf der Bildfläche, einer der größten Grundbesitzer der Region und damals ein Mitglied der Kommunistischen Partei Indiens (CPI). 1990 versammelte er eine Gruppe von Mukhias und Grundbesitzern und begann eine Kampagne, die Jan Jagran Abhiyaan (öffentliche Erweckungskampagne) genannt wurde. Ihre Art, die 'Öffentlichkeit' zu 'erwecken' bestand darin, Jagdgruppen von etwa 300 Männern zu bilden, die den Wald durchstreiften, Leute töteten,  Dörfer anzündeten und Frauen belästigten. Die damalige Regierung von Madhya Pradesh – Chattisgarh war noch nicht gegründet worden – stellte polizeiliche Unterstützung. In Maharashtra begann gleicherweise die sogenannte 'Democratic Front' mit ihren Angriffen. Der People's War (PW) antwortete darauf nach Art des wahren Volkskrieges, indem sie einige der berüchtigtsten Grundbesitzer töteten. In wenigen Monaten hörte der Jan Jagran Abhiyaan, der 'weiße Terror' – Genossin Venus Begriff dafür – auf. 1998 versuchte Mahendra Karma, der inzwischen der Kongress Partei beigetreten war, die Jan Jagran Abhiyaan wiederzubeleben. Diesmal nahm sie ein noch schnelleres Ende als zuvor.


Bewaffnete Kämpfer: eine Dorfmiliz, die 'Grundeinheit' der Volksbefreiungs-Guerillaarmee

Dann, 2005 lachte ihm das Glück. Im April unterzeichnete die BJP-Regierung in Chhattisgarh zwei Vereinbarungen für die Errichtung von integrierten Stahlwerken (deren Bedingungen geheim sind). Eins für 7000 crore Rs mit Essar Steel in Bailadila und das andere für 10 000 crore Rs mit Tata Steel in Lohandiguda. Im selben Monat gab Premierminister Manmohan Singh seine berühmte Erklärung über die Maoisten ab, dass sie die „größte Bedrohung für die Innere Sicherheit“ Indiens seien. (Es war dumm, so etwas damals zu sagen, denn die Regierung in Andhra Pradesh hatte gerade die Maoisten ausmanövriert und sie dezimiert. Sie hatten etwa 1600 ihrer Kader verloren und befanden sich in voller Auflösung.) Die Erklärung des Premiers jagte die Börsennotierung der Bergwerksgesellschaften in die Höhe. Es war auch ein Signal für die Medien, dass die Maoisten Freiwild seien, die jeder nach Belieben verfolgen könne.  Im Juni 2005 berief Mahendra Karma ein geheimes Treffen mit den Mukhias im Dorf Kutroo ein und gab die Gründung von Salwa Judum  (die Reinigungsjagd) bekannt. Eine hübsche Mischung aus Stammes-Erdverbundenheit und Dwij/Nazi Gefühlen.

Im Gegensatz zur Jan Jagran Abhiyaan war Salwa Judum eine echte Aufräum-Operation, die beabsichtigte, die Leute aus ihren Dörfern in Camps entlang der Straßen zu jagen, um sie zu kontrollieren und unter Polizeiaufsicht zu haben. In der Sprache der Militärs wurde es Strategische Dorfansiedlung genannt. Dies wurde 1950 von General Sir Harold Briggs konzipiert, als die Briten gegen die Kommunisten in Malaya Krieg führten. Der Briggs-Plan wurde in der indischen Armee sehr populär. Er wurde in Nagaland, Mizoram und in Telangana angewandt. Der BJP -remierminister von Chhattisgarh Raman Singh erklärte, dass, was seine Regierung anginge, jene Dorfbewohner, die nicht in die Camps zogen, zu Maoisten erklärt würden. In Bastar wurde es für einen gewöhnlichen  Dorfbewohner, der einfach zuhause bleiben wollte, gleichbedeutend mit gefährlicher, terroristischer Tätigkeit.

Zusammen mit einem Becher schwarzen Tee, als Vorzugsbehandlung händigte mir jemand ein Paar Hörstöpsel und einen kleinen MP3-Player aus, den er anstellt. Es ist eine verkratzte Aufnahme von Mr. Manhar, damaliger SP von Bijapur, der einen jungen Offizier drahtlos darüber informierte, welche Vergünstigungen und Anreize der Staat und die Zentralregierung den 'jagrit' (erweckten) Dörfern böten und den Leuten, die dem Umzug in die Camps zustimmten. Er gibt dann ganz klare Instruktionen, dass Dörfer, die sich weigern aufzugeben, angezündet werden sollten, und Journalisten, die über Naxaliten berichten wollen, sofort erschossen werden sollen. (Ich hatte darüber in den Zeitungen vor langer Zeit gelesen. Als die Geschichte herauskam, wurde zur Strafe – es ist nicht klar für wen – der SP in die Staatliche Menschenrechtskommission versetzt.)

Das erste Dorf, das die Salwa Judum (am 18. Juni 2005) niederbrannte, war Ambeli. Zwischen Juni und Dezember 2005 brannten, mordeten, vergewaltigten und plünderte sie sich durch hunderte Dörfer im Süden Dantewadas. Das Zentrum ihrer Operationen waren die Distrikte von Bijapur und Bhairamgarh nahe Bailadila, wo Essar Steels neue Fabrik stehen sollte. Nicht zufällig waren dies auch maoistische Hochburgen, wo die Janatana Sarkars eine Menge Arbeit geleistet hatten, besonders in der Errichtung von Wasserspeichern. Die Janatana Sarkars wurden das besondere Ziel der Angriffe der Salwa Judum.  Hunderte von Leuten wurden auf die brutalste Weise ermordet. Etwa 60 000 Menschen zogen in die Camps, manche freiwillig, andere aus Angst. Von diesen wurden 3000 zu SPOs ernannt mit einem Gehalt von 1500 Rs. [25 €]

Für diese dürftigen Krumen haben sich junge Leute  wie der Bruder von Nilesh selbst zu einer lebenslänglichen Strafe hinter Stacheldraht verurteilt. So grausam, wie sie gewesen sind, können sie einst die schlimmsten Opfer dieses schrecklichen Krieges werden. Kein Urteil des Obersten Gerichtes zur Auflösung der Salwa Judum kann an ihrem Schicksal etwas ändern.

Die übrigen hunderttausende von Menschen entwichen dem Regierungsradar. (Aber nicht die Entwicklungsgelder für die 644 Dörfer. Was geschieht mit dieser kleinen Goldmine?)  Viele gingen nach Andhra Pradesh und Orissa, wohin sie gewohnheitsmäßig wanderten, um Arbeit während der Chili-Erntesaison als Vertragsarbeiter zu finden. Aber zehntausende flüchteten in die Wälder, wo sie immer noch sind und ohne Dach über dem Kopf leben und nur tagsüber zu ihren Feldern und Häusern zurückgehen.

Im Windschatten der Salwa Judum tauchten eine Menge von Polizeistationen und Camps auf. Die Idee war, einen Sicherheitsgürtel für die 'schleichende Wiederbesetzung' vom Maoisten-kontrolliertem Gebiet zu liefern. Die Annahme war auch, dass die Maoisten es nicht wagen würden, eine so große Konzentration von Sicherheitskräften anzugreifen. Die Maoisten ihrerseits wurden sich darüber klar, dass, wenn sie nicht den Sicherheitsgürtel zerschlügen, es darauf hinausliefe, das Volk im Stich zu lassen, dessen Vertrauen sie verdient hatten, und mit dem sie 25 Jahre lang gelebt und gearbeitet hatten. Sie schlugen in einer Serie von Angriffen zurück auf das Herz des Sicherheitsgürtels.

Am 26. Januar 2006 griff die PLGA das Gangalaur Polizeilager an und tötete sieben Leute. Am 17. Juli 2006 wurde das Salwa Judum-Lager in Erabor angegriffen, wobei 20 Leute getötet und 150 verletzt wurden. (Sie haben darüber vielleicht gelesen: „Die Maoisten griffen das Unterstützungslager an, das von der Regierung des Staates errichtet wurde, um die Dorfbewohner, die aus ihren Dörfern geflohen waren, gegen den von den Naxaliten entfesselten Terror zu schützen.“) Am 13. Dezember 2006 griffen sie das 'Schutz'-Lager  Basaguda an und töteten drei Offiziere der Spezialpolizei (SPO) und einen Wachtmeister. Am 15. März 2007 kam der waghalsigste aller Angriffe. Einhundertzwanzig PLGA-Guerillas griffen das Rani Bodili Kanya Ashram an, ein Mädchenheim, das in eine Barracke für 80 Chhattisgarh Polizisten (und SPO) verwandelt worden war, während die Mädchen dort noch immer als menschliche Schilde lebten. Die PLGA drangen in das Gelände ein, riegelten den Anbau, wo die Mädchen wohnten ab, und griffen die Baracken an. 55 Polizisten und SPO wurden getötet. Keines der Mädchen wurde verletzt. ( Der freimütige SPO von Dantewada hatte mir seine Power Point Präsentation gezeigt mit den furchtbaren Bildern von den verbrannten, ausgeweideten Leichen der Polizisten inmitten der Ruinen der gesprengten Schulgebäude. Sie waren so makaber, dass es unmöglich war, nicht wegzuschauen. Er betrachtete vergnügt meine Reaktion.)

Der Angriff auf Rani Bodili rief einen Aufschrei im Lande hervor. Menschenrechtsorganisationen verurteilten die Maoisten nicht nur wegen der Gewalt, sondern auch, weil sie  erziehungsfeindlich seien und Schulen angriffen. Aber in Dandakaranya wurde der Rani Bodili Angriff zu einer Legende: Lieder, Gedichte und Stücke wurden darüber verfasst.

Die maoistische Konteroffensive brach den Sicherheitsgürtel und gab dem Volk eine Atempause. Die Polizei und die Salwa Judum zogen sich in ihre Lager zurück, von wo sie jetzt nur in Trupps von 300 bis 1000 Mann aufbrechen – gewöhnlich mitten in der Nacht – um Umzingelungs- und Suchoperationen in den Dörfern durchzuführen. Allmählich begannen die Leute – außer den SPO und deren Familien – aus den Salwa Judum-Lagern zu verschwinden und wieder in ihre Dörfer zurückzukehren. Die Maoisten hießen sie willkommen und gaben bekannt, dass selbst SPO zurückkehren könnten, wenn sie ernsthaft und öffentlich ihre Handlungen bereuten. In den vergangenen 30 Jahren sind bewaffneten Gruppen allmählich zu Abteilungen gewachsen, die Abteilungen zu Zügen, und die Züge zu Kompanien. Aber nach der Niederlage der Salwa Judum war die PLGA schnell in der Lage,  Bataillone zu bilden.

Die Salwa Judum war nicht nur ein Fehlschlag – sie hat auch schlimme Rückwirkungen gehabt.

Wie wir jetzt wissen, war es nicht nur eine lokale Operation von einem armseligen Gangster. Trotz der Doppelzüngigkeit der Presse war Salwa Judum eine gemeinsame Operation der Staatsregierung von Chhattisgarh und der Kongress-Partei, die im Zentrum an der Macht war. Sie durfte auf keinen Fall schiefgehen. Nicht, wo alle diese Verträge auf der Warteliste standen wie welkende Jungfern auf dem Heiratsmarkt. Die Regierung stand unter enormem Druck, einen neuen Plan zu entwickeln. Sie entwickelte die Operation Green Hunt. Die SPO der Salwa Judum werden jetzt Koya Commandos genannt. Die Regierung hat mobilisiert: die bewaffneten Streitkräfte von Chhattisgarh (CAF), die Zentrale Polzeireserve (CRPF), den Grenzschutz (BSF), die Indo-Tibetische Grenzpolizei (ITBP), die Zentrale Kraft für Industriesicherheit (CISF), die Greyhounds, die Scorpions und die Cobras. Und eine Polizei, die liebevoll WHAM genannt wird (die Anfangsbuchstaben von Winning Hearts and Minds = die Herzen und Gemüter gewinnen).

Wichtige Kriege werden häufig an unwahrscheinlichen Orten ausgetragen. Die Freie Marktwirtschaft (i.e. Kapitalismus) besiegte den Sowjet-Kommunismus in den rauen Bergen Afghanistans. Hier in den Wäldern von Dantewada tobt eine Schlacht um die Seele Indiens. Reichlich viel ist über die sich vertiefende Krise der indischen Demokratie gesagt worden und das geheime Einverständnis zwischen den riesigen Unternehmen, den größeren politischen Parteien und dem Sicherheits-Establishment. Wenn jemand eine kurze Stichprobe machen möchte, dann ist Dantewada der richtige Ort für einen Besuch.

Der Entwurf eines Berichts über Landwirtschaftsbeziehungen des Staates und die Unvollendete Aufgabe der Landreform  (State Agrarian Relations and the Unfinished Task of  Land Reform, Band I ) stellt fest, dass Tata Steel und Essar Steel die ersten Geldgeber von Salwa Judum waren. Da er ein Regierungsbericht war, sorgte  er  für Aufregung, als er  in der Presse erschien. (Diese Tatsache wurde in dem Schlussbericht nicht mehr erwähnt. War es ein echter  Irrtum oder hat jemand einen sanften, integrierten Stahlklaps auf die Schulter bekommen?)

Am 12. Oktober 2009 fand eine zwingende öffentliche Anhörung der Tata Steel Plant, die eigentlich in Lohandiguda stattfinden sollte, wo die örtliche Bevölkerung hätte teilnehmen können, in Jagdalpur in einer kleinen Halle des Steuereinnehmergebäudes statt, viele Kilometer weit weg und abgeriegelt durch massive Sicherheitskräfte. Eine gekaufte Zuhörerschaft von 50 Stammesmitgliedern wurde in einem bewachten Konvoy in Regierungsjeeps herangekarrt. Nach dem Treffen gratulierte der Distrikt-Steuereinnehmer 'dem Volk von Lohandiguda' für seine Zusammenarbeit.  Die lokalen Blätter erzählten diese Lüge, obwohl sie es besser wussten. (Reklameanzeigen strömten herein.) Trotz der Einsprüche der Dorfbewohner wurde mit dem Landerwerb für das Projekt begonnen.

Die Maoisten sind nicht die einzigen, die den indischen Staat abschaffen wollen. Er ist bereits mehrfach von den Hindu-Fundamentalisten und dem wirtschaftlichen Totalitarismus abgeschafft worden.

Lohandiguda, eine fünf-Stunden-Fahrt von Dandewada, war eigentlich nie ein Naxaliten-Gebiet. Jetzt aber ist es eins. Genossin Joori, die neben mir saß, als ich mein Ameisen-Chutney aß, arbeitet in dem Gebiet. Sie sagte, dass sie beschlossen, dorthin zu gehen, als Graffitis an den Wänden auftauchten, die sagten: „Naxali aao, hamein bachao!“ (Naxals, kommt und rettet uns!) Vor ein paar Monaten wurde Vimal Meshram, Präsident des Dorf-Panchayat [Gemeinderat], auf dem Markt erschossen. „Er war Tatas Mann“, sagt Joori. „Er zwang die Leute, ihr Land aufzugeben und die Kompensation zu akzeptieren. Es ist gut, dass er weg ist. Wir verloren auch einen Genossen. Sie erschossen ihn. Willst du mehr Chapoli?“ Sie ist erst 20. „Wir wollen nicht die Tatas hierher kommen lassen. Die Leute wollen sie nicht.“ Joori gehört nicht zur PLGA. Sie gehört der Chetna Natya Manch (CNM) an, der Kulturabteilung der Partei. Sie singt und sie schreibt Lieder. Sie kommt aus Abujhmad. (Sie ist verheiratet mit dem Genossen Madhav. Sie verliebte sich in seinen Gesang, als er  ihr Dorf mit einer CNM-Truppe besuchte.)

Ich habe das Gefühl, dass ich hier etwas sagen sollte. Über die Sinnlosigkeit von Gewalt, über die Unannehmbarkeit von wahllosen Erschießungen. Aber was könnte ich ihnen empfehlen zu tun? Vor Gericht zu gehen? Eine Dharna [Sitzblockade] vor der Jantar Mantar [Sternwarte], in New Delhi zu machen? Eine Rally? Eine Hungerstreik-Staffel? Das klingt lächerlich. Die Förderer der New Economic Policy (Neue Wirtschaftspolitik) – denen es so leicht fällt zu sagen „Es gibt keine Alternative“ - sollte man fragen, eine alternative Widerstandspolitik vorzuschlagen. Eine spezifische, für dieses spezifische Volk, in diesem spezifischen Wald. Hier. Jetzt. Welche Partei sollten sie wählen? An welche demokratische Institution dieses Landes sollten sie sich wenden? An welche Tür hat die Narmada Bachao Andolan [NBA , Menschenrechts- und Umweltbewegung für die Rettung des Narmada-Flusses] noch nicht geklopft während all der Jahre, in denen sie gegen die großen Dammbauten am Narmada gekämpft haben?

Es ist dunkel. Im Lager gibt es eine Menge Aktivitäten, aber ich kann nichts sehen. Nur Lichtpunkte bewegen sich hier und da. Es ist schwer zu sagen, ob es Sterne oder Leuchtkäfer oder Maoisten sind. Der kleine Mangtu erscheint aus dem Nichts. Ich fand heraus, dass er Teil der ersten Gruppe von Jungkommunisten der Mobilen Schule ist, der lesen und schreiben lernte und in den grundlegenden kommunistischen Prinzipien unterrichtet wurde. („Indoktrinierung von jungen Gehirnen!“ heulen  die großen Medien.  Fernsehanzeigen, die die Gehirne der Kinder waschen, noch bevor sie denken können, werden nicht als Form der Gehirnwäsche angesehen.) Den jungen Kommunisten ist es nicht erlaubt, Gewehre oder Uniformen zu tragen. Aber sie folgen den PLGA-Abteilungen mit glitzernden Augen wie Groupies ihrer Rockband.

Mangtu hat mich mit sanfter Besitzermiene adoptiert. Er hat meine Wasserflasche gefüllt und sagt, ich solle meinen Rucksack packen. Eine Pfeife ertönt. Das blaue Jhilli-Zelt wird abgenommen und in fünf Minuten platt zusammengefaltet. Noch ein Pfeifenton und alle hundert Genossen stellen sich auf. Fünf Reihen. Genosse Raju ist der Leiter der Operation. Es wird ein Anwesenheitsappell gemacht. Ich stehe auch in der Reihe und rufe meine Nummer, als Genossin Kamla, die vor mir steht, mir sie vorsagt. (Wir zählen bis 20 und beginnen dann wieder bei eins, weil die meisten Gonds nur so weit zählen. Zwanzig ist genug für sie. Vielleicht sollte es auch für uns genug sein.) Chandu ist im Tarnanzug und trägt ein Sten-Gewehr. Mit leiser Stimme informiert Genosse Raju die Gruppe. Alles auf  Gondi. Ich verstehe überhaupt nichts, aber das Wort RV höre ich. Später sagt mir Raju, das es für Rendezvous steht! Jetzt ist es ein Gondi-Wort. „Wir machen Rendezvous-Punkte aus für den Fall, dass wir angegriffen werden, und alle sich aufteilen müssen, dann wissen sie, wo sie sich erneut sammeln können.“ Er kann wirklich nicht wissen, was für eine Art Panik das in mir hervorruft. Nicht dass ich Angst habe, unter Feuer zu geraten, sondern Angst, mich zu verirren. Was Richtungen angeht, bin ich Legastheniker, durchaus fähig, die Orientierung zwischen meinem Schlafzimmer und dem Badezimmer zu verlieren. Was werde ich in einem 60 000  Quadratkilometer großen Wald tun? Egal was passiert, ich werde mich an Genosse Rajus Pallu festhalten.

Bevor ich zu laufen beginne, kommt Genosse Venu zu mir: „Nun denn, ich verabschiede mich.“ Ich bin völlig überrascht. Er sieht wie ein kleiner Mosquito aus mit seinem wollenen Schal und den Chappals, umgeben von seinen Wachen, drei Frauen und drei Männer. Schwer bewaffnet. „Wir sind sehr dankbar, dass du Genossin, den ganzen Weg zu uns gekommen bist,“ sagt er. Nochmals ein Händeschütteln und die geballte Faust. „Lal Salaam, Genossin.“ Er verschwindet in dem Wald, den Schlüsselverwalter. Und in einem kurzen Augenblick ist es, als wäre er nie hier gewesen. Ich bin ein bisschen sprachlos. Aber ich habe Stunden von Tonbandaufnahmen zum Anhören. Und als die Tage sich in Wochen verwandeln, werde ich viele Leute treffen, die dem Rasterfeld, das er für mich aufzeichnete, Farbe und Einzelheiten hinzufügen werden. Wir beginnen, in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. Genosse Raju, der nach Iodex auf Kilometer Entfernung riecht, sagt mit einem glücklichen Lächeln: „Meine Knie sind kaputt. Ich kann nur laufen, wenn ich ein Faust voller Schmerztabletten genommen habe.“

Genosse Raju spricht perfekt Hindi und hat einen trockenen Humor, die lustigsten Geschichten zu erzählen. Er arbeitete 18 Jahre lang als Anwalt in Raipur. Sowohl er als auch seine Frau Malti waren Parteimitglieder ihres Stadtnetzwerks. Ende 2007 wurde eine der Schlüsselfiguren der Partei im Rajpur-Netzwerk verhaftet, gefoltert und am Ende wurde er Informant. Er wurde in einem geschlossenen Polizeiwagen in Rajpur herumgefahren und musste seine ehemaligen Kollegen anzeigen. Genossin Malti war eine von ihnen. Am 22. Januar 2008 wurde sie zusammen mit mehreren anderen verhaftet. Die Anklage gegen sie lautete, dass sie CDs mit Videos mit Beweisen über die Gräuel der Salwa Judum an mehrere Mitglieder des Parlamentes geschickt hatte. Ihr Fall wird kaum jemals verhandelt werden, weil die Polizei weiß, dass er faul ist. Aber das neue Chhattisgarh Spezialgesetz für öffentliche Sicherheit (CSPSA) erlaubt es der Polizei, sie ohne Anklage für mehrere Jahre festzuhalten. „Jetzt hat die Regierung mehrere Polizei-Bataillone aus  Chhattisgarh eingesetzt, um die armen Mitglieder des Parlamentes vor ihren eigenen Post zu schützen“, sagt Genosse Raju. Er wurde nicht eingefangen, weil er zu der Zeit auf einer Konferenz in Dandakaranya war. Und seither ist er hier. Seine zwei schulpflichtigen Kinder, die alleine zuhause geblieben waren, wurden eingehend von der Polizei verhört. Am Ende wurde ihr Haus zerstört, und sie gingen zu einem Onkel, um dort zu leben. Genosse Raju hat erst vor ein paar Wochen zum ersten Mal eine Nachricht über sie erhalten. Was gibt ihm diese Kraft, diese Fähigkeit, seinen beißenden Humor beizubehalten? Was hält sie alle in Gange, trotz allem, was sie mitgemacht haben? Ihr Glaube und ihre Hoffnung – und Liebe – für die Partei. Ich begegne dem immer wieder, auf die tiefste und persönlichste Weise.

Wir laufen jetzt im Gänsemarsch. Ich und einhundert „sinnlos gewalttätige“, blutdurstige Rebellen. Ich schaute zurück auf das Lager, bevor wir gingen. Es gab kein Anzeichen dafür, dass dort einhundert Leute kampiert hatten, außer ein wenig Asche, wo der Feuerplatz sich befunden hatte. Diese Armee, ich kann es nicht glauben. Was den Verbrauch angeht, ist sie mehr Ghandianisch als jeder Gandhianer und hinterlässt einen geringeren Kohlenstoffausstoß als irgendein Klimawechsel-Prediger. Und einstweilen hat sie sogar gegenüber der Sabotage ein Ghandianisches Verhalten: bevor zum Beispiel ein Polizeifahrzeug verbrannt wird, wird es ausgeweidet und jedes Teil nimmt man an sich. Das Steuerrad wird gerade gebogen und in ein Bharmaar verwandelt, die  Kunstlederpolsterung wird rausgerissen und für Munitionstaschen verwendet, die Batterie zum Laden von Sonnenenergie. (Die neuen Anweisungen vom Oberkommando besagen, dass erbeutete Fahrzeuge vergraben werden und nicht verbrannt werden sollen. Damit sie bei Bedarf wiederverwendet werden können.) Sollte ich vielleicht ein Theaterstück schreiben – Gandhi Get Your Gun? Oder werde ich dann gelyncht?

Wir wandern in vollständiger Dunkelheit und absolutem Schweigen. Ich bin die einzige, die eine Taschenlampe benutzt, so dass alles, was ich im Lichtkegel sehe, die nackten Fersen der Genossin Kamla sind in ihren abgewetzten, schwarzen Chappals, was mir genau anzeigt, wohin ich meine Füsse setzen muss. Sie trägt ein zehnfach größeres Gewicht als ich. Ihren Rucksack, ihr Gewehr, einen riesigen Sack Vorräte auf dem Kopf, einen von den großen Kochtöpfen und zwei Schultertaschen voller Gemüse. Der Sack auf dem Kopf ist exakt ausbalanciert, so dass sie Abhänge hinunter kraxelt oder über glitschige, steinige Stiege läuft, ohne ihn überhaupt zu berühren. Sie ist ein Wunder. Es erweist sich als ein langer Marsch. Ich bin dankbar für die Geschichtslektion, denn, unabhängig von allem anderen, gab sie meinen Füßen einen ganzen Tag Ruhe. Durch den Wald bei Nacht zu laufen, ist einfach wunderbar.

Und ich werde es nun Nacht für Nacht tun.

Wir gehen zu den Feierlichkeiten der hundertjährigen Wiederkehr des Bhumkal-Aufstandes von 1910, als die Koyas sich gegen die Briten erhoben. Bhumkal bedeutet Erdbeben. Genosse Raju sagt, dass manche Leute gemeinsam tagelang laufen, um zu der Feier zu kommen. Der Wald muss voller Leute sein, die unterwegs sind. Es gibt Feiern in allen DK-Abteilungen. Wir sind privilegiert, weil Genosse Leng, der Zeremonienmeister, mit uns wandert. Auf  Gondi bedeutet Leng 'die Stimme'. Genosse Leng ist ein großer Mann mittleren Alters aus Andhra Pradesh, ein Kollege des legendären und beliebten Sänger-Poeten Gadar, der die radikale Kulturorganisation Jan Natya Manch (JNM) 1972 gründete. Am Ende wurde die JNM ein formeller Teil der PWG und konnte in Andhra Pradesh ein Publikum von mehreren zehntausend anlocken. Genosse Leng wurde 1977 Mitglied und wurde selbst auch ein berühmter Sänger. Er lebte in Andhra Pradesh während der schlimmsten Repression, der Zeit der 'encounter' – Morde [Morde, die als bewaffnete Zusammenstöße getarnt werden. D.Ü.], bei denen fast täglich Freunde starben. Er selbst wurde eines Nachts aus seinem Krankenhausbett gezerrt, von einem weiblichen Polizeisuperintendent, als Arzt verkleidet. Er wurde in den Wald außerhalb von Warangal gebracht, um 'encountered' zu werden. Glücklicherweise bekam Gadar Wind davon und schlug Alarm. Als die PW 1998 beschloss, eine Kulturorganisation in DK zu gründen, schickte man Genossen Leng, um die Chetna Natya Manch zu leiten. Und hier ist er nun und marschiert neben mir und trägt aus irgendwelchen Gründen ein olivgrünes Hemd und violette Pyjamas mit rosa Häschen drauf. „Die CNM hat jetzt 10 000 Mitglieder“, sagte er mir. „Wir haben 500 Lieder auf Hindi, Gondi, Chhattisgarhi und Halbi. Wir haben ein Buch gedruckt mit 140 unserer Lieder. Jeder schreibt Lieder.“ Als ich das erste Mal mit ihm redete, hörte er sich sehr ernst an, sehr aufrichtig. Aber Tage später, als wir um ein Feuer saßen, er  immer noch in seinen Pyjamas, erzählte er uns von einem sehr erfolgreichen, Mainstream-Telegu-Filmregisseur (ein Freund von ihm), der immer einen Naxaliten in seinen eigenen Filmen spielt. „Ich fragte ihn“, sagte Leng in seinem Hindi mit dem reizenden Telugu-Akzent, „warum glaubst du, dass Naxaliten immer so sind?“ - und er machte eine geschickte Karikatur eines geduckten, stolzierenden, gejagt-aussehenden Mann, der aus dem Wald auftaucht mit einer AK-47. Wir grölten alle vor Lachen.

Glück wird ernst genommen in Dandakaranya. Die Menschen wandern kilometerweit, tagelang, um gemeinsam zu singen und zu tanzen. Dies ist ihr Trotz.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich auf die Bhumkal-Feiern freue. Ich fürchte, dass ich Stammestänze sehen werde, steif von maoistischer Propaganda, aufrüttelnde, rhetorische Reden und ein gehorsames Publikum mit glänzenden Augen. Wir kommen auf dem Gelände ziemlich spät am Abend an. Ein provisorisches Monument aus einem in rotes Tuch gehülltem Bambusgerüst ist errichtet worden. An der Spitze, über Hammer und Sichel der Maoistischen Partei ist der Pfeil und Bogen der Janatana Sarkar, in Silberfolie gehüllt. Angemessen, die Hierarchie. Die Bühne ist riesig, auch vorübergehend, auf einem starken Gerüst und bedeckt mit einer dicken Schicht Lehm. Es sind bereits kleine Feuer über das Gelände verteilt. Leute kommen an und kochen ihre Abendmahlzeit. Sie sind nur Silhouetten in der Dunkelheit. Wir suchen unseren Weg zwischen ihnen (lalsalaam, lalsalaam, lalsalaam) und gehen etwa 15 Minuten, bis wir wieder in den Wald kommen.

An unserem neuen Lagerplatz müssen wir uns wieder aufstellen. Wieder ein Anwesenheitsappell. Und dann Instruktionen über die Position der Wachposten und Abschussbögen ( 'firing arcs') – Entscheidungen über das Schussfeld für jeden, falls die Polizei angreift. Auch RVs werden wieder bestimmt.


Junge, Junge, was für ein Lächeln: Genossin Kamla, 17, mit einem Gewehr auf der Schulter. Auch ein Wunder.

Ein Voraustrupp war schon da und hat das Abendessen zubereitet. Zum Dessert bringt Kamla mir eine wilde Guave, die sie unterwegs gepflückt und für mich weggepackt hat.

Im Morgengrauen hat man das Gefühl, dass mehr und mehr Leute ankommen für die Feier des Tages. Ein Summen der Erregung liegt in der Luft. Menschen, die sich lange Zeit nicht gesehen haben, treffen sich wieder. Wir können hören, wie Mikrofone getestet werden. Fahnen, Spruchbänder, Plakate werden angebracht. Ein Plakat mit dem Bild von fünf Leuten, die in Ongnaar am Tag unserer Ankunft getötet wurden, ist aufgetaucht.

Ich trinke Tee mit Genossin Narmada, Genossin Maase und Genosse Rupi. Genossin Narmada erzählt von den vielen Jahren, die sie in Gadchiroli gearbeitet hat, bevor sie DK Chefin des Krantikari Adivasi Mahila Sangathan wurde. Rupi und Maase waren städtische Aktivisten in Andhra Pradesh und berichten über die langen Jahre des Kampfes der Frauen in der Partei, nicht nur für ihre Rechte, sondern auch, um der Partei begreiflich zu machen, dass Gleichheit zwischen Männern und Frauen als zentral gesehen wird beim Traum von einer gerechten Gesellschaft. Wir reden über die 70-er Jahre und die Geschichten von Frauen in der Naxaliten-Bewegung, die von männlichen Genossen enttäuscht worden sind, die sich für große Revolutionäre hielten, aber verkrüppelt waren von dem alten Patriarchat, dem üblichen alten Chauvinismus. Maase sagt, dass sich die Dinge seither gewaltig verändert haben, aber dass sie immer noch einen weiten Weg vor sich haben. (Das Zentralkomitee der Partei und das Politbüro haben immer noch keine Frau.)

Gegen Mittag kam eine weitere PLGA-Einheit an. Sie wird angeführt von einem großen, schlanken, jungenhaft aussehenden Mann. Dieser Genosse hat zwei Namen – Sukhdev und Gudsa Usendi – aber beide nicht seine eigenen. Sukhdev ist der Name eines beliebten Genossen, der gefallen ist. (In diesem Krieg sind nur die Toten sicher genug, ihre eigenen Namen führen zu können.) Gudsa Usendi ist der Name des Parteisprechers für Dandakaranya. Obwohl Sukhdev den Rest der Reise mit mir verbringt, habe ich keine Ahnung, wie ich ihn jemals wiederfinden könnte. Sein Lachen würde ich jedoch überall wiedererkennen. Er kam nach DK 1988, sagt er, als die PWG beschlossen hatte, ein Drittel ihrer Kräfte nach DK zu schicken. Er ist hübsch angezogen, in 'zivil' (Gondi für Zivil- Kleidung), im Gegensatz zu 'dress' (die maoistische 'Uniform') und könnte als eine junge Führungskraft durchgehen. Ich frage ihn, wieso er nicht in Uniform sei. Er sagt, er sei auf Reisen gewesen und gerade  aus Keshkal Ghat nahe Kanker zurück. Dort gäbe es Berichte von 3 Millionen Tonnen Bauxit, auf die eine Firma namens Vedanta ihr Auge geworfen habe.

Bingo. Alle Ehre für meinen Instinkt.

Sukhdev sagt, er sei dorthin gegangen, um die Temperatur des Volkes zu messen. Zu sehen, ob es bereit sei zu kämpfen. „Sie wollen Abteilungen haben – jetzt. Und Gewehre.“ Er wirft den Kopf in den Nacken und brüllt vor Lachen. „Ich sagte ihnen, das sei nicht so leicht, bhai.“ Aus gelegentlichen geflüsterten Unterhaltungen und der Lässigkeit, mit der er seine AK-47 trägt, schließe ich, dass er ein hoher und aktiver Genosse der PLGA ist.

Dschungelpost kommt. Es ist ein Biskuit für mich dabei! Es ist vom Genossen Venu. Auf einem winzigen Stück Papier, das mehrmals gefaltet ist, schrieb er den Text eines Liedes, das er mir zu schicken versprochen hatte. Genossin Narmada lächelt, als sie es liest. Sie kennt die Geschichte. Sie geht zurück auf die 80-er Jahre, als die Leute allmählich anfingen, der Partei zu vertrauen und mit ihren Problemen zu ihr kamen – mit ihren 'inneren Widersprüchen', wie Genosse Venu es nannte. Frauen kamen als erste. Eines Abends stand eine alte Frau, die am Feuer saß, auf und sang ein Lied für die Dada log. Sie war eine Maadiya, bei denen es Sitte war, dass die Frauen, nachdem sie geheiratet hatten, ihre Blusen auszogen und barbusig blieben.

Jumper polo intor Dada, Dakoniley
Taane tasom intor Dada, Dakoniley
Bata papam kittom Dada, Dakoniley
Duniya kadile maata Dada, Dakoniley
(Sie sagen, wir können nicht unsere
Blusen behalten, Dada. Dakoniley
Sie zwingen uns, sie abzunehmen, Dada,
welche Sünde haben wir begangen, Dada,
Die Welt hat sich verändert oder nicht Dada)

Aatum hatteke Dada, Dakoniley
Aada nanga dantom Dada, Dakoniley
Id pisval manni Dada, Dakoniley
Mava koyaturku vehat Dada, Dakoniley 

Aber wenn wir zum Markt gehen Dada,
Müssen wir halb nackt gehen, Dada,
Wir wollen dieses Leben nicht Dada,
Sag das unseren Ahnen Dada.)

Dies war die erste Frauenfrage, in der die Partei entschied, eine Kampagne dagegen zu führen. Sie musste vorsichtig gehandhabt werden, mit Operationsbesteck. 1986 wurde die Adivasi Mahila Sangathan (AMS) gegründet, die in der Krantikari Adivasi Mahila Sangathan aufging und jetzt 90 000 eingeschriebene Mitglieder hat. Sie könnte sehr wohl die größte Frauenorganisation im ganzen Lande sein. (Sie sind, nebenbei gesagt, alle Kommunisten, alle 90 000. Sollen sie 'ausgerottet' werden? Und was ist mit den 10 000 Mitgliedern der CNM? Sie auch?) KAMS propagiert gegen die Adivasi-Traditionen von Zwangsehe und Entführung. Gegen die Sitte, menstruierende Frauen außerhalb des Dorfes in einer Hütte im Wald wohnen zu lassen. Gegen Bigamie und häusliche Gewalt. Sie hat nicht alle ihre Schlachten gewonnen, aber welche Feministinnen haben das? In Dandakaranya ist es selbst heute noch den Frauen nicht erlaubt, Samen zu säen. In Parteiversammlungen sind die Männer sich einig, dass das ungerecht ist und abgeschafft werden sollte. Aber in der Praxis erlauben sie es einfach nicht. Die Partei entschied also, dass die Frauen auf gemeinsamem Land säen könnten, das der Janatana Sarkar gehört. Auf diesem Land säen sie, ziehen Gemüse und bauen check dams [dies sind kleine Dämme, die quer über kleine Flüsse, Ablaufkanäle u.dgl. gebaut werden, um die Wassergeschwindigkeit zu reduzieren und die Bodenerosion zu kontrollieren. D.Ü.]. Ein halber Sieg und kein ganzer.

In dem Maße, wie die polizeiliche Repression in Bastar zunahm, umso mehr wurden die Frauen der KAMS zu einer mächtigen Kraft und sammeln sich zu hunderten, manchmal zu tausenden, um die Polizei physisch zu konfrontieren. Allein die Tatsache, dass die KAMS existiert, hat die traditionellen Verhaltensweisen radikal verändert und viele der traditionellen Formen der Diskrimination gegenüber Frauen abgeschwächt. Für viele junge Frauen bedeutete, der Partei und insbesondere der PLGA beizutreten, eine Möglichkeit, dem Ersticken in der eigenen Gesellschaft zu entgehen. Genossin Sushila, die seit vielen Jahren Ämter in der KAMS bekleidet, spricht über die Wut der Salwa Judum gegen die Frauen der KAMS. Einer von deren Slogans war: Hum do bibi lanyenge! Layenge! (Wir wollen zwei Frauen haben! Wir wollen!) Viele der Vergewaltigungen und bestialischen sexuellen Verstümmelungen  waren gegen die Mitglieder der KAMS gerichtet. Viele junge Frauen, die Zeugen dieser Barbarei wurden, sind dann der PLGA beigetreten, und jetzt sind 45% ihrer Kader Frauen. Genossin Narmada schickt nach einigen von ihnen, und binnen kurzem sind sie bei uns.

Genossin Rinki hat sehr kurzes Haar. Ein bob-cut (Bobschnitt oder Bubikopf), wie sie auf Gondi sagen. Das ist tapfer von ihr, denn hier bedeutet ein 'bob-cut' Maoist. Für die Polizei ist es ein mehr als ausreichender Beweis für die Rechtfertigung, sie auf der Stelle zu erschießen. Genossin Rinkis Dorf Korma wurde von dem Naga Battaillon und der Salwa Judum 2005 angegriffen. Damals gehörte Rinki der Dorfmiliz an, genau wie ihre Freundinnen Lukki und Sukki, die auch Mitglieder der KAMS waren. Nachdem sie das Dorf niedergebrannt haben, fing das Naga Battaillon Lukki und Sukki und ein weiteres Mädchen, das ebenfalls Mitglied der KAMS war, vergewaltigten alle gemeinsam und töteten sie. „Sie vergewaltigten sie im Gras“, sagt Rinki, „aber als alles vorbei war, gab es da kein Gras mehr.“ Das ist Jahre her und das Naga Battaillon gibt es nicht mehr, aber die Polizei kommt immer noch. „Sie kommt, wann immer sie Frauen brauchen oder Hühner.“


Lagerplatz: ein Maoisten-'Lager'. Wenn sie es verlassen, bleibt nur etwas Asche.

Ajitha hat auch einen Bubikopf. Die Judum kam in ihr Dorf Korseel und tötete drei Leute, indem sie sie in einer nallah [Bach] ertränkten. Ajitha war bei der Miliz und sie folgte der Judum aus der Entfernung bis zu einem Ort nahe dem Dorf Paral Nar Todak. Sie sah, wie sie sechs Frauen vergewaltigten und einem Mann in die Kehle schossen.

Genossin Laxmi, ein wunderschönes Mädchen mit einem langen Zopf, erzählt mir, dass sie die Judum dabei beobachtete, wie sie 30 Häuser in ihrem Dorf Jojor zerstörten. „Wir hatten damals keine Waffen“, sagt sie, „wir konnten nichts anderes tun als zuschauen.“ Sie schloss sich bald darauf der PLGA an. Laxmi war eine von den 150 Guerilleros, die 2008 dreieinhalb Monate lang durch den Dschungel wanderten, bis nach Nayagarh in Orissa, um ein Polizeiwaffenlager zu überfallen, wo sie 1200 Gewehre und 2 000 000 Runden Munition erbeuteten.

Genossin Sumitra trat 2004 der PLGA bei, bevor die Salwa Jugum ihren Amoklauf begann. Sie trat bei, so sagt sie, weil sie von zuhause weg wollte. „Frauen werden in jeder Weise kontrolliert“, sagte sie mir. „In unserem Dorf wurde den Mädchen nicht erlaubt, Bäume zu erklettern; wenn sie es taten, mussten sie eine Strafe von 500 Rs oder eine Henne bezahlen. Wenn ein Mann eine Frau schlägt, und sie zurückschlägt, muss sie dem Dorf eine Ziege bezahlen. Männer gehen gemeinsam in die Berge, um monatelang zu jagen. Frauen ist es nicht erlaubt, sich der Beute zu nähern, denn die besten Teile des Fleisches bekommen die Männer. Frauen dürfen keine Eier essen.“ Gute Gründe, um der Guerilla-Armee beizutreten?

Sumitra erzählt die Geschichte zweier ihrer Freundinnen, Telam Parvati und Kamla, die mit der KAMS arbeiteten. Telam Parvati kam aus dem Dorf Polekaya im südlichen Bastar. Wie alle anderen auch, beobachtete sie die Salwa Judum beim Niederbrennen ihres Dorfes. Daraufhin schlossen sie sich der PGLA an und fingen in Keshkal Ghat zu arbeiten an. 2009 waren sie und Kamla gerade damit fertig geworden, die Feiern für den Tag der Frau am 8. März in der Gegend zu organisieren. Sie waren zusammen in einer kleinen Hütte gleich außerhalb des Dorfes Vadgo. Die Polizei umzingelte nachts die Hütte und begann zu feuern. Kamla schoss zurück, aber sie wurde getötet. Parvati entkam, wurde aber am nächsten Tag gefunden und getötet.

Das geschah am Tag der Frau im vergangenen Jahr. Und hier  folgt ein Pressebericht einer nationalen Zeitung über den Tag der Frau in diesem Jahr:

Bastar-Rebellen fordern Rechte der Frauen

Sahar Khan, Mail Today, Raipur vom 7. März 2010

Die Regierung  mag jede Zurückhaltung im Kampf gegen die maoistische Bedrohung im Land aufgegeben haben. Aber eine Sektion der Rebellen in Chhattisgarh hat dringendere Dinge zu tun als an das Überleben zu denken. Zum bevorstehenden  Internationalen Frauentag haben die Maoisten in der Bastar-Region des Staates zu den eine Woche dauernden 'Feierlichkeiten' aufgerufen, um für die Rechte der Frauen zu agitieren. Plakate wurden überall in Bijapur angeschlagen, Teil des Bastar-Distriktes. Der Aufruf der selbsternannten Vorkämpfer für die Rechte der Frauen erstaunte die staatliche Polizei. Der Generalinspektor (IG) von Bastar, T. J. Longkumer sagte: „ich habe niemals einen solchen Aufruf gesehen von den Naxaliten, die doch nur an Gewalt und Blutvergießen denken,“

Und der Bericht geht weiter:

„Ich glaube, die Maoisten versuchen, unserer äußerst erfolgreichen Jan Jagran Abhiyaan (Kampagne zur Bewusstseinsbildung der Massen) entgegenzuwirken. Wir begannen mit dieser Kampagne, um die Unterstützung des Volkes für die Operation Green Hunt zu gewinnen, die von der Polizei lanciert wurde, um die linken Extremisten auszumerzen“, sagte der IG.

Dieser Cocktail aus Bosheit und Ignoranz ist nicht ungewöhnlich. Gudsa Usendi, der Chronist der Partei, weiß mehr darüber als die meisten Leute. Sein kleiner Computer und sein MP3-Recorder sind voller Presseerklärungen, Widerrufungen, Korrekturen, Parteiliteratur, Totenlisten, TV-Clips sowie Audio- und Videomaterial. „Das Schlimmste daran, ein Gudsa Usendi zu sein“, sagt er, „ist, Klarstellungen herauszugeben, die niemals veröffentlicht werden. Wir könnten ein dickes Buch herausgeben mit unseren nicht veröffentlichten Klarstellungen über die Lügen, die sie  über uns erzählen.“ Er spricht ohne die Spur von Empörung, ja sogar mit etwas Belustigung.

„Was ist die lächerlichste Anklage, die ihr dementieren musstet?“

Er überlegt: „2007 mussten wir eine Erklärung abgeben, in der es hieß 'Nahin bhai, hamne gai ko hathode se nahin mara (Nein, Bruder, wir haben die Kühe nicht mit einem Hammer getötet'.) 2007 verkündete die Raman Singh Regierung ein Gai Yojana (Kuh-Programm), ein Wahlversprechen: eine Kuh für jeden Adivasi. Eines Tages  berichteten Fernsehen und Zeitungen, dass die Naxaliten eine Kuhherde angegriffen hätten und sie niedergeknüppelt hätten – mit Hämmern – weil sie anti-Hindu und anti-BJP seien. Du kannst dir vorstellen, was passierte. Wir gaben ein Dementi heraus. Kaum jemand brachte es. Später kam heraus, dass der Mann, dem die Kühe zur Verteilung übergeben worden waren, ein Schurke war. Er verkaufte sie und sagte, wir hätten ihm einen Hinterhalt gelegt und hätten die Kühe getötet.“

„Und die ernsthafteste?“

„Oh, da gibt es dutzende. Sie führen schließlich eine Kampagne durch. Als die Salwa Judum loslegte, griffen sie am ersten Tag ein Dorf namens Ambedi an, brannten es nieder und dann zogen sie alle  - SPO, das Naga-Bataillon, Polizei – nach Kotrapal weiter. Du musst doch von Kotrapal gehört haben? Es ist ein berühmtes Dorf, es ist 22mal niedergebrannt worden, weil es sich weigerte, sich zu ergeben. Als die Judum Kotrapal erreichte, wartete unsere Miliz bereits auf sie. Sie hatte einen Hinterhalt vorbereitet. Zwei SPO starben. Sieben nahmen wir gefangen, und der Rest ist geflohen. Am nächsten Tag stand in den Zeitungen, dass die Naxaliten arme Adivasis massakriert hätten. Manche sagten, wie hätten hunderte getötet. Selbst eine respektable Zeitschrift wie die Frontline schrieb, wir hätten 18 unschuldige Adivasis getötet. Selbst K. Balagopal, der Menschenrechtsaktivist, der normalerweise sehr genau in punkto Fakten ist, selbst er sagte dies. Wir schickten ein Dementi. Niemand hat es publiziert. Später hat Balagopal in seinem Buch seinen Irrtum zugegeben … Aber wer hat das bemerkt?“


Erinnerung an die Märtyrer: Fotos erschlagener Genossen, ausgestellt am Bhumkal-Tag.

Ich fragte, was mit den sieben gefangenen Leuten passierte. „Das Gebietskomitee hat ein jan adalat (Volksgericht) einberufen. Viertausend Menschen waren anwesend. Sie hörten sich die gesamte Geschichte an. Zwei der SPOs wurden zum Tode verurteilt. Fünf wurden verwarnt und frei gelassen. Das Volk entschied. Selbst mit Informanten – was heutzutage ein großes Problem geworden ist – hört das Volk sich den Fall an, die Geschichten, die Geständnisse und sagt: ' Iska hum risk nahin le sakte' (Wir lassen uns nicht auf das Risiko ein, dieser Person zu vertrauen) oder 'Iska risk hum lenge (Wir lassen uns auf das Risiko ein, dieser Person zu vertrauen)'. Die Presse berichtet immer über Informanten, die getötet werden. Sie berichtet niemals über die vielen, die frei gelassen werden. Jeder denkt also, es sei eine blutdurstige Prozedur, bei der jeder immer getötet wird. Es geht nicht um Rache, es geht ums Überleben und die Rettung künftiger Leben … Natürlich gibt es Probleme. Wir haben furchtbare Fehler begangen; wir haben sogar die falschen Leute bei unseren Hinterhalten getötet, weil wir glaubten, es seien Polizisten, aber so, wie es in den Medien dargestellt wird, ist es nicht.“

Die gefürchteten 'Volksgerichte. Wie können wir sie akzeptieren? Oder diese rohe Form der Justiz billigen?

Auf der anderen Seite, wie steht es mit den 'encounters', getürkt oder sonstwie – die übelste Form der Schnelljustiz – für die Polizisten und Soldaten Tapferkeitsmedaillen bekommen, Geldbelohnung und vorgezogene Beförderungen von der indischen Regierung? Je mehr sie töten, umso mehr werden sie belohnt. 'Tapfere Herzen' werden sie genannt, diese 'Encounter'-Spezialisten. 'Anti-Nationale' werden wir genannt, diejenigen von uns, die sie in Frage stellen. Und wie steht es mit dem Obersten Gericht, das frech eingestand, nicht genügende Beweise zu haben, um Mohammad Afzal (wegen des Angriffs auf das Parlament im Dezember 2001 angeklagt) zum Tode zu verurteilen, es aber gleichwohl tat? Weil 'das kollektive Bewusstsein der Gesellschaft nur zufrieden sein wird, wenn die Todesstrafe über den Täter verhängt wird'.

Zumindest war in dem Fall vom jan adalat  in Kotrapal das Kollektiv physisch präsent, um seine eigene Entscheidung zu treffen. Sie wurde nicht von Richtern getroffen, die vor langem jeden Kontakt mit dem gewöhnlichen Leben verloren haben, aber so tun, als sprächen sie zugunsten eines abwesenden Kollektivs. 

Und was hätte das Volk von Kotropal tun sollen, frage ich mich? Die Polizei rufen?

Der Klang der Trommeln war inzwischen sehr laut geworden. Bhumkal konnte beginnen. Wir begaben uns zu dem Gelände und konnten kaum unseren Augen trauen. Da war ein Meer von Menschen,  die wildesten schönen Menschen, angezogen auf die wildeste und schönste Weise. Die Männer schienen mehr Sorgfalt auf ihr Äußeres gelegt zu haben als die Frauen. Sie trugen mit Federn geschmückten Kopfschmuck und gemalte Tätowierungen auf dem Gesicht. Viele hatten Augen-make-up und weiße, gepuderte Gesichter.  Es gab jede Menge Miliz, Mädchen in Saris mit atemberaubenden Farben und die Gewehre sorglos über die Schulter geworfen. Es gab alte Leute, Kinder und rote buntings [eine Finkenart. D.Ü.] kurvten über den Himmel. Die Sonne ist gleißend hell und steht hoch am Himmel. Genosse Leng spricht. Und mehrere Kader aus den verschiedenen Janatana Sarkars. Genossin Niti, eine außergewöhnliche Frau, die seit 1997 der Partei angehört, ist eine derartige Bedrohung für die Nation, dass im Januar 2007 mehr als 700 Polizisten das Dorf Innar umstellten, weil sie gehört hatten, dass sie dort wäre. Genossin Niti wird als so gefährlich betrachtet und wird mit solcher Verzweiflung gejagt, nicht weil sie viele Hinterhalte angeführt hat (in der Tat), sondern weil sie eine Adivasi-Frau ist, die von den Menschen in den Dörfern geliebt wird und eine echte Inspiration für junge Menschen ist. Sie spricht mit ihrem AK über ihrer Schulter. (Es ist eine Waffe mit einer Geschichte. Beinahe jedermanns Gewehr hat eine Story: von wem sie erbeutet wurde, wie und durch wen.)

Eine CNM-Truppe führt ein Stück über den Bhumkal-Aufstand auf. Die bösen weißen Kolonialherren tragen Hüte und goldenes Stroh statt Haaren und  tyrannisieren und schlagen die Adivasis zu Brei – was endlose Heiterkeit im Publikum hervorruft. Eine andere Truppe aus Süd-Gangalaur führt ein Stück auf, das Nitir Judum Pito (Geschichte von der Blutjagd) heißt. Joori übersetzt für mich. Es ist die Geschichte von zwei alten Leuten, die nach dem Dorf ihrer Tochter suchen. Als  sie durch den Wald laufen, verirren sie sich, weil alles niedergebrannt und nicht wiederzuerkennen ist. Die Salwa Judum hat sogar die Trommeln und Musikinstrumente verbrannt. Es ist nicht einmal Asche übrig, denn es hat geregnet. Sie können ihre Tochter nicht finden. In ihrem Kummer beginnt das alte Paar zu singen, und auf ihren Gesang hin hört man die Stimme der Tochter aus den Ruinen: der Klang unseres Dorfes ist zum Schweigen gebracht worden, singt sie. Kein Stampfen des Reises ist zu hören und kein Gelächter vom Brunnen. Kein Vogelsang, keine blökenden Ziegen. Das gespannte Band des Glücks ist gerissen.

Der Vater antwortet singend: meine schöne Tochter, weine  heute nicht. Jeder, der geboren wurde, muss sterben. Diese Bäume  um uns herum werden fallen, die Blumen werden blühen und verblühen, eines Tages wird auch die Erde alt werden. Aber  wofür sterben wir? Eines Tages werden unsere Quälgeister lernen, eines Tages wird die Wahrheit siegen, aber unser Volk wird dich niemals vergessen, nicht in tausend Jahren.

Noch ein paar Reden. Dann Getrommel und der Tanz beginnt. Jede Janatana Sarkar hat ihre eigene Truppe. Jede Truppe hat ihren eigenen Tanz einstudiert.  Sie kommen eine nach der anderen, mit riesigen Trommeln, und sie tanzen wilde Geschichten. Die einzige Figur, die jede Truppe gemeinsam hat, ist der Bad Mining Man (böser  Bergwerksbesitzer) mit einem Helm und dunkler Brille und meist eine Zigarette rauchend. Aber an ihrem Tanz ist nichts Steifes oder Mechanisches. Als sie tanzen, steigt Staub auf. Das Getrommel wird ohrenbetäubend. Allmählich beginnt die Menge zu schaukeln. Und dann beginnt sie zu tanzen.  Sie tanzt in kleinen Reihen von sechs oder sieben Leuten, Männer und Frauen getrennt, mit den Armen um die Hüfte des nächsten. Tausende von Menschen. Um dessentwillen sind sie gekommen. Dies hier. Glück wird hier ernst genommen, im Wald von Dandakaranya. Dafür laufen die Menschen kilometerweit und tagelang, um gemeinsam zu feiern und zu singen, um Federn auf ihre Turbane zu stecken und Blumen in ihre Haare, um ihre Arme umeinander zu legen und um Mahwa zu trinken und die Nacht durchzutanzen.  Niemand singt oder tanzt allein. Dies signalisiert mehr als alles andere ihren Trotz gegenüber der Zivilisation, die sie zu vernichten droht.

Ich kann nicht glauben, dass all dies vor der Nase der Polizei geschieht. Inmitten der Operation Green Hunt.

Zu Anfang beobachten die PLGA-Genossen die Tänzer, abseits stehend mit ihren Gewehren. Aber dann, einer nach dem anderen, wie Enten, die nicht ertragen, am Ufer zu stehen und die anderen Enten schwimmen zu sehen, reihen sie sich ein und beginnen auch zu tanzen. Bald gibt es Reihen von olivgrünen Tänzern, die mit all den anderen Farben herumwirbeln. Und dann, als Schwestern und Brüder und Eltern und Kinder und Freunde, die sich monatelange nicht getroffen haben, manchmal Jahre,  sich nun wiedersehen, brechen die Reihen auf und bilden sich erneut, und das Olivgrün vermischt sich mit den wirbelnden Saris und Blumen und Trommeln und Turbanen. Gewiss ist dies eine Armee des Volkes. Zumindest jetzt. Und was der Vorsitzende Mao sagte über die Guerilla, die der Fisch ist und das Volk das Wasser, in dem sie schwimmt, ist in diesem Augenblick buchstäblich wahr.

Der Vorsitzende Mao. Er ist auch hier. Vielleicht ein bisschen einsam, aber er ist gegenwärtig. Es gibt ein Foto von ihm,  auf einem roten Wandtuch. Auch Marx. Und der Vorsitzende Mazumdar, der Gründer und Cheftheoretiker der Naxaliten-Bewegung. Seine grobe Rhetorik schwelgt in Gewalt, Blut und Opfertod, und verwendet oft eine so brutale Sprache, dass sie sich beinahe genozidal anhört. Als ich hier stehe, am Bhumkal-Tag, kann ich nicht anders, als zu denken, dass seine Analyse, so wichtig für die Struktur dieser Revolution, doch so fern von ihren Gefühl und ihrer Textur ist. Als er sagte, dass nur „eine Vernichtungskampagne“ den „neuen Menschen (hervorbringen könnte), der dem Tod trotzen und frei sein würde von jedem Gedanken an Eigeninteresse“ - hätte er sich da denken können, dass dieses alte Volk, das durch die Nacht tanzte, dasjenige sein würde, auf dessen Schultern seine Träume einst ruhen würden?

Es ist ein Bärendienst an allem, was hier geschieht, dass das Einzige, was an die Außenwelt zu dringen scheint, die steife, unbeugsame Rhetorik von Parteiideologen ist, die sich in einer problematischen Vergangenheit entwickelt hat. Als Charu Mazumdar seinen berühmten Ausspruch tat, dass „Chinas Vorsitzender unser Vorsitzender ist und Chinas Weg der unsrige ist“, war er bereit, so weit zu gehen, dass die Naxaliten schwiegen, als General Yahya Khan Völkermord in Ost-Pakistan (Bangladesh) beging, weil China zu jener Zeit Alliierter von Pakistan war. Es herrschte auch Schweigen über die Roten Khmer und ihre Todesfelder in Kambodscha. Es herrschte Schweigen über die großen Exzesse der chinesischen und russischen Revolution. Schweigen über Tibet. Innerhalb der Naxaliten-Bewegung hat es auch Gewaltexzesse gegeben, und es ist unmöglich, viel von dem zu verteidigen, was sie getan haben. Aber kann irgendetwas, was sie getan haben, mit den schmutzigen Handlungen des Kongress und der BJP [Bharatiya Janata Party – eine Hindu-nationalistische sogenannte konservative Partei, die aber eher deutlich faschistische Züge trägt und auf deren Konto zahllose Massaker an Moslem, Adivasi usw. gehen. Siehe auch hier: D.Ü.] in Punjab, Kashmir, Delhi, Mumbai, Gujarat … verglichen werden? Und dennoch, trotz all dieser erschreckenden Widersprüche war Charu Mazumdar in vielem, was er sagte und schrieb, ein Visionär. Die Partei, die er gründete (und ihre vielen Splittergruppen), haben den Traum von der Revolution in Indien lebendig und präsent erhalten. Man stelle sich eine Gesellschaft ohne diesen Traum vor. Allein dafür können wir ihn nicht zu hart beurteilen. Besonders deshalb, wenn wir uns in den Gandhianischen frommen Humbug hüllen, von der Überlegenheit des „gewaltfreien Weges“ und seine Vorstellung von 'Treuhänderschaft': „Der reiche Mann wird den Besitz seines Reichtums behalten, von dem er  das verbrauchen wird, was er vernünftigerweise für seine persönlichen Bedürfnisse benötigt, und wird als Vormund für das Übrige fungieren, um es für das Wohl der Allgemeinheit einzusetzen.“

Wie seltsam ist es also, dass die gegenwärtigen Zaren des indischen Establishments – der Staat, der die Naxaliten gnadenlos zerschlug – heute das sagen sollten, was Charu Mazumdar vor so langer Zeit sagte: Chinas Weg ist unser Weg…

Drunter und Drüber


Die Verdammten: Dorfbewohner aus dem gefluteten Gebiet für den Bodhghat-Staudamm

Chinas Weg hat sich geändert. China ist jetzt eine imperiale Macht geworden, das andere Länder ausbeutet, die Ressourcen anderer Länder. Aber die Partei hat immer noch Recht, doch die Partei hat ihre Meinung geändert.

Wenn die Partei ein Freier ist (wie jetzt in Dandakaranya), das Volk umwirbt und auf jedes von seinen Bedürfnissen eingeht, dann ist sie wirklich eine Partei des Volkes, seine Armee wirklich eine Armee des Volkes. Aber nach der Revolution – wie leicht kann sich die Liebesgeschichte in eine bittere Ehe verwandeln. Wie leicht kann sich die Armee des Volkes gegen das Volk wenden. Heute in Dandakaranya möchte die Partei das Bauxit im Berg belassen. Wird sie morgen ihre Meinung ändern? Aber können wir, sollten unsere Befürchtungen über die Zukunft uns untätig werden lassen in der Gegenwart?

Das Tanzen wird die ganze Nacht anhalten. Ich wandere zurück in das Lager. Maase ist dort, wach. Wir reden bis tief in die Nacht. Ich gebe ihr mein Exemplar von Nerudas 'Die Verse des Kapitäns' (ich hatte es mitgenommen, nur für alle Fälle). Sie fragt, wieder und wieder. ”Was denken sie über uns dort draußen? Was sagen die Studenten? Erzähl mir von der Frauenbewegung, welches sind jetzt die großen Themen?” Sie fragt mich aus, über mein Schreiben. Ich versuche ihr einen ehrlichen Bericht von meinem Chaos zu geben. Dann fängt sie an, über sich zu reden, wie sie zur Partei gekommen ist. Sie erzählt mir, dass ihr Partner im vergangenen Mai getötet wurde, in einem getürkten 'encounter'. Er wurde in Nashik verhaftet und nach Warangal gebracht, um getötet zu werden. „Sie müssen ihn übel gefoltert haben.” Sie war auf dem Weg, ihn zu treffen, als sie hörte, dass er verhaftet worden war. Seither ist sie in den Wäldern. Nach einem langen Schweigen, erzählt sie, dass sie schon einmal Jahre davor verheiratet gewesen sei. ”Auch er wurde in einem encounter getötet”, sagt sie und füg mit herzzerreißender Genauigkeit hinzu, ”aber in einem richtigen.”

Ich liege wach auf meinem Jhilli, denke an die so lange dauernde Trauer von Maase, höre auf die Trommeln und die Klänge des lange dauernden Glücks auf dem Festplatz, denke an Charu Mazumbars Idee eines lange dauernden Krieges, das zentrale Konzept der maoistischen Partei. Das ist es, was die Leute denken lässt, dass das Angebot der Maoisten über 'Friedensgespräche' ein Witz sei, eine List, um eine Atempause zu gewinnen, um sich neu zu formieren, sich neu zu bewaffnen und dann den lange andauernden Krieg wieder aufzunehmen. Was ist der lange andauernde Krieg? Ist er an sich eine furchtbare Sache oder hängt er von der Natur des Krieges ab? Was, wenn das Volk hier in Dandakaranya nicht den lange andauernden Krieg in den vergangenen 30 Jahren geführt hätte – wo wäre es jetzt?

Und sind die Maoisten die einzigen, die an den lange andauernden Krieg glauben? Beinahe von dem Augenblick an, als Indien eine unabhängige Nation wurde, verwandelte sie sich in eine Kolonialmacht, die sich Territorium aneignete und Krieg führte. Sie hat niemals gezögert, militärische Interventionen anzuwenden, um politische Probleme anzugehen – Kashmir, Hyderabad, Goa, Nagaland, Manipur, Telangana, Assam, Punjab, der Naxalitenaufstand in Westbengalen, Bihar, Andhra Pradesh und jetzt in den gesamten Ländern der Stammesvölker in Zentralindien. Zehntausende sind straflos getötet worden, hunderttausende gefoltert worden. All dies hinter der wohlwollenden Maske der Demokratie. Gegen wen sind diese Kriege geführt worden? Moslem, Christen, Sikhs, Kommunisten, Dalits, Stammesvölker und vor allem gegen die Armen, die es wagen, ihr Schicksal in Frage zu stellen, statt die Krumen zu akzeptieren, die man ihnen zuwirft.  Es ist schwer, nicht einzusehen, dass der indische Staat im wesentlichen ein Staat der höchsten Hindukaste ist (unabhängig davon, welche Partei an der Macht ist), der eine reflexartige Feindschaft gegen den 'anderen' hegt. Eine, die auf echte Kolonialmanier die Nagas und Mizos losschickt, um in Chhattisgarh zu kämpfen, die Sikhs in Kashmir, die Kashmiris in Orissa, die Tamilen in Assam usw.

Wenn dies kein lange andauernder Krieg ist, was dann?

Unangenehme Gedanken in einer wundervollen, sternenreichen Nacht. Sukhdev lächelt vor sich hin, sein Gesicht von dem Computer-Schirm erleuchtet. Er ist ein verrückter Workaholic. Ich frage ihn, was so witzig sei. „Ich denke an die Journalisten, die im vergangenen Jahr zu den Bhumkal Feierlichkeiten kamen. Sie kamen für ein oder zwei Tage. Einer posierte mit meiner AK, habe ihn selbst fotografiert,  und dann ging er zurück und nannte uns Mordmaschinen oder so etwas.”

Das Tanzen hat noch nicht aufgehört und der Tag bricht schon an. Die Reihen sind immer noch in Bewegung, hunderte junger Leute tanzen immer noch. ”Sie hören nicht auf”,  sagt Genosse Raju, ”bevor wir nicht anfangen zu packen.”

Auf dem Festplatz treffe ich den Genossen Doktor. Er hatte einen medizinischen Stand an einer Ecke des Tanzbodens aufgebaut gehabt. Ich möchte seine fetten Wangen küssen. Warum kann er nicht wenigstens einer von dreißig Leuten sein statt nur einer? Warum kann er nicht einer von tausend Leuten sein? Ich frage ihn über die Gesundheit in Dandakaranya. Seine Antwort lässt mein Blut gefrieren. Die meisten Leute, die er untersucht habe, sagt er, haben einen Hämoglobin-Gehalt, der zwischen fünf und sechs liegt (während der Standard indischer Frauen bei 11 liegt). Es gibt Tuberkulose, verursacht durch mehr als zweijährige chronischer Anämie. Junge Kinder leiden unter Protein-Energie-Mangelernährung 2. Grades, in medizinischer Terminologie Kwashiorkor genannt. (Ich schaute später nach. Dies ist ein Wort aus der Ga-Sprache an der Küste Ghanas und heißt „die Krankheit, die Babies bekommen, wenn die neuen Babies kommen“. Im Grunde also, wenn die alten Babies keine Milch mehr von der Mutter erhalten, und es nicht genügend Nahrung gibt, um die Ernährung zu garantieren.) „Es ist hier epidemisch, wie in Biafra“, sagt der Genosse Doktor, „Ich habe früher schon in Dörfern gearbeitet, aber so etwas wie hier habe ich noch nicht gesehen.“

Davon abgesehen gibt es Malaria, Osteoporose, Bandwurm, schwere Ohren- und Zahninfektionen und primäre Amenorrhöe – i.e. wenn Mangelernährung bei Frauen in der Pubertät die Menstruation verschwinden oder gar nicht erst eintreten lässt.

„Es gibt keine Kliniken in diesem Wald, abgesehen von einer oder zwei in Gadchiroli. Keine Ärzte, keine Medikamente.“

Jetzt ist er gegangen mit seinem kleinen Team auf eine acht Tage lange Wanderung nach Abujhmad. Er hat auch seinen 'dress' (Tarnanzug) an, der Genosse Doktor. Wenn sie ihn finden, dann werden sie ihn töten.

Genosse Raju sagt, dass es nicht sicher für uns sei, länger in diesem Lager zu bleiben. Wir müssen weiter. Bhumkal zu verlassen, bedeutet eine Menge Aufwiedersehen sagen.

Lal lal salaam, lal lal salaam,
Jaane wale saathiyon ko lal lal salaam
(Ein roter Gruß für die davonziehenden Genossen)
Phir milenge, phir milenge
Dandakaranya jungle mein phir milenge
(Wir werden uns wiedersehen, eines Tages, im Dandakaranya Dschungel).

Es fällt niemals leicht, die Zeremonie der Ankunft und Abreise, weil jeder weiß, dass wenn man sagt „wir werden uns wiedersehen“, dann meinen sie in Wirklichkeit „wir werden uns nie wiedersehen“.

Genossin Narmada, Genossin Maase und Genossin Rupi gehen getrennte Wege. Werde ich sie jemals wiedersehen?

Wir wandern also wieder einmal. Es wird jeden Tag heißer. Kamla pflückt die erste Frucht vom Tendubaum für mich. Sie schmeckt wie Chikoo [natürl. Kaugummi aus dem Breiapfelbaum]. Ich bin ein Freund von Tamarinde geworden. Dieses Mal kampieren wir nahe an einem Strom. Frauen  und Männer baden abwechselnd in Gruppen. Am Abend erhält Genosse Raju ein ganzes Paket mit 'Biskuits'. Neuigkeiten:

60 Leute in der Division Manpur Ende Januar 2010 verhaftet; noch nicht vor Gericht gestellt.

Riesige Polizeiaufgebote sind in Süd-Bastar eingetroffen. Wahllose Angriffe im Gange.

Am 8. Nov. 2009 wurden im Dorf Kachlaram, Bijapur Jila, Dirko Madka (60) und Kovasi Suklu (68) getötet.

Am 24. Nov. wurde Madavi Baman (15) im Dorf Pangodi getötet.

Am 3. Dezember wurde auch Madavi Budram aus Korenjad getötet.

Am 11. Dez. wurden 7 Leute im Dorf Gumiapal, Darba Division, getötet (Namen noch unbekannt).

Am 15. Dez. wurden im Dorf Kotrapal Veko Sombar und Madavi Matti (beide von der KAMS) getötet.

Am 30. Dez. im Dorf Vechapal Poonem Pandu und Poonem Motu (Vater und Sohn) getötet.

Im Jan. 2010 (Datum unbekannt) der Chef der Janatana Sarkar im Dorf Kaika, Gangalaur, getötet.

Am 9. Jan. 4 Leute im Dorf Surpangooden, Jagargonda Gebiet getötet.

Am 10. Jan. 3 Leute im Dorf Pullem Pulladi getötet.

Am 25. Jan. 7 Leute im Dorf Takilod, Indravati Gebiet, getötet.

Am 10. Februar (Bhumkal Tag), Kumli vergewaltigt und getötet im Dorf Dumnaar, Abujhmad. Sie kam aus einem Dorf namens Paiver.

2000 Soldaten von der Indo-Tibetischen Grenzpolizei (ITBP) kampieren im Rajnandgaon Wald.

5000 zusätzliche Truppen der BSF [Border Security Force, paramilitärische „Grenztruppe”, die keine Grenzen kennt] sind in Kanker angekommen.

Und dann:

 Die PLGA Quote ist erfüllt.

Einige ältere Zeitungen sind auch gekommen. Mit einer Menge Berichten über die Naxaliten. Eine schreiende Schlagzeile fasst das politische Klima sehr gut zusammen: 'Khadedo, Maaro, Samarpan Karao (Ausmerzen, töten, sie zur Übergabe zwingen).' Darunter, das: 'Vaarta ke liye loktantra ka dwar khula hai' (Die Tür der Demokratie ist offen für Gespräche).' Eine andere Überschrift sagt, dass die Maoisten Cannabis anbauen,  um Geld zu machen. Die Zeitung hat einen Leitartikel, in dem es heißt, dass das Gebiet, wo wir kampiert haben und durch das wir wandern, völlig unter der Kontrolle der Polizei steht.

Die jungen Kommunisten nehmen die Ausschnitte mit, um ihr Lesen zu verbessern. Sie wandern im Lager umher und lesen die anti-Maoisten-Artikel laut wie die Nachrichtensprecher im Radio.

Ein neuer Tag, ein neuer Ort. Wir lagern außerhalb des Dorfes Usir unter riesigen Mahwa-Bäumen. Die Mahwa haben gerade zu blühen begonnen und ihre blass-grünen Blüten regnen wie Juwelen auf den Waldboden. Die Luft ist geschwängert von ihrem leicht berauschenden Duft. Wir warten auf die Kinder aus der Bhatpal-Schule, die nach dem Ongnaar-Gefecht geschlossen wurde. Sie ist in ein Polizeilager verwandelt worden. Die Kinder sind nachhause geschickt worden. Dasselbe gilt für die Schulen von Nelwad, Moonjmetta, Edka, Vedomakot und Dhanora.

Die Kinder der Bhatpal-Schule kommen nicht.


Bubischnitt-Brigade: In Bastar, Frauen mit einem Bubischnitt können ermordet werden.

Genossin Niti (Dringend gesucht) und Genosse Vinod nehmen uns auf einen langen Ausflug mit, um uns die Sperrdämme und Bewässerungs-Tümpel zu zeigen, die von der örtlichen Janatana Sarkar gebaut worden sind. Genossin Niti spricht über die Reihe von landwirtschaftlichen Problemen, mit denen sie zu kämpfen haben. Nur 2% des Landes sind bewässert. In Abujhmad war noch vor 10 Jahren das Pflügen unbekannt. In Gadchiroli andererseits hat man mit der Verwendung von Hybridsaatgut und chemischem Dünger begonnen. „Wir brauchen dringend Hilfe in der Landwirtschaftsabteilung“, sagt Genosse Vinod. „Wir brauchen Leute, die sich mit Saatgut auskennen, mit organischem Dünger und Permakultur. Mit etwas Hilfe würden wir viel erreichen.“

Genosse Ramu ist der Bauer, der für das Janatana Sarkar Gebiet verantwortlich ist. Er zeigt uns stolz die Felder, auf denen sie Reis, Brinjal [Auberginen], Gongura [eine Art Sauerampfer], Kohlrabi und Zwiebeln anbauen. Dann zeigt er  uns mit demselben Stolz ein knochentrockenes Bewässerungsfeld. Was ist das? „Das hat nicht mal in der Regensaison Wasser. Es ist auf dem falschen Platz gegraben worden“, sagt er mit einem breiten Lächeln. „Es gehört nicht uns, es ist von der Looti Sarkar (der Regierung, die plündert) gegraben worden.“ Es gibt zwei Parallel-Regierungssysteme hier. Janatana Sarkar und Looti Sarkar.

Ich denke an das, was Genosse Venu zu mir sagte: Sie wollen uns zerschmettern, nicht nur wegen der Mineralien, sondern weil wir der Welt ein alternatives Modell zeigen.

Es ist noch kein alternatives Modell, diese Idee von Gram Swaraj [Selbstverwaltung im Sinne von Gandhi] mit einem Gewehr. Es gibt zu viel Hunger, zu viel Krankheit hier. Aber man hat zweifelsfrei die Möglichkeiten für eine Alternative geschaffen. Nicht für die ganze Welt, nicht für Alaska oder New Delhi, vielleicht nicht einmal für ganz Chhattisgarh, aber für sie selbst. Für Dandakaranya. Es ist das best gehütetste Geheimnis der Welt. Man hat die Grundlagen für eine Alternative zu seiner eigenen Vernichtung gelegt. Man hat der Geschichte getrotzt. Gegen die größten Schwierigkeiten hat man einen Plan geschmiedet für das eigene Überleben. Es braucht Hilfe und Vorstellungskraft, er braucht Ärzte, Lehrer, Bauern.

Es braucht keinen Krieg.

Aber  wenn es nur Krieg gibt, dann wird zurückgeschlagen.

In den wenigen Tagen, die noch blieben, treffe ich Frauen, die mit der KAMS arbeiten, verschiedene Kader der Janatana Sarkars, Mitglieder der Dandakaranya Kisan Mazdoor Sangathan (DAKMS), Familien von Leuten, die getötet wurden und schlicht einfache Leute, die versuchen, mit dem Leben in diesen schlimmen Zeiten zurechtzukommen.

Ich treffe drei Schwestern – Sukhiari, Sukdai und Sukkali – nicht jung, vielleicht um die 40, aus dem Narayanpur-Distrikt. Sie sind seit 12 Jahren bei der KAMS. Die Dorfbewohner sind von ihnen abhängig, um der Polizei standzuhalten. „Die Polizei kommt in Trupps von 2-300 Leuten. Sie stehlen alles: Schmuck, Hühner, Schweine, Töpfe und Pfannen, Pfeile und Bögen“, sagte Sukkali, „sie lassen nicht einmal ein Messer zurück.“ Ihr Haus in Innar ist zweimal niedergebrannt worden, einmal vom Naga-Bataillon und einmal von der CRPF. Sukhiari ist verhaftet und sieben Monate lang in Jagdalpur eingesperrt worden. „Einmal nahmen sie das ganze Dorf mit; sie sagten, alle Männer seien Naxaliten.“ Sukhiari folgte mit allen Frauen und Kindern. Sie umringten die Polizeistation und weigerten sich zu gehen, bevor die Männer freigelassen würden. „Wann immer sie jemanden mitnehmen“, sagt Sukdai, „muss man sofort losgehen, um ihn wieder zu schnappen. Bevor sie einen Bericht schreiben. Haben sie erst einmal in ihr Buch geschrieben, dann wird es sehr, sehr schwierig.“

Sukhiari, die ein Kind hat, wurde entführt und mit einem älteren Mann zwangsverheiratet (sie lief davon und lebte mit ihrer Schwester), organisiert jetzt Massenversammlungen, spricht auf  Versammlungen. Die Männer sind von ihrem Schutz  abhängig. Ich fragte sie, was die Partei für sie bedeute. „Naxalvaad ka matlab hamara parivaar (Naxalvaad bedeutet unsere Familie). Wenn wir von einem Angriff hören, dann ist es, als ob unsere Familie verletzt worden ist“, sagt Sukhiari.

Ich fragte sie, ob sie wüsste, wer Mao war. Sie lächelte schüchtern. „Er war ein Führer. Wir arbeiten für seine Vision.“

Ich treffe die Genossin Somari Gawde. Sie ist 20 Jahre alt und hat bereits eine 2-jährige Gefängnisstrafe in Jagdalpur abgesessen.  Sie war am 8. Januar 2007 in dem Dorf Innar, an dem Tag, als 740 Polizisten das Dorf umzingelten, weil sie gehört hatten, dass Genossin Niti dort wäre. (War sie auch, aber sie war schon fort, als sie kamen.) Aber die Dorfmiliz, zu der Somari gehörte, war noch da. Die Polizei eröffnete in der Dämmerung das Feuer. Sie töteten 2 Jungen, Suklal Gawde und Kachroo Gota. Dann fingen sie zwei andere Jungen ein, Dusri Salam und Ranai und auch Somari. Dusri und Ranai wurden gebunden und erschossen. Somari wurde beinahe tot geschlagen. Die Polizei holte einen Traktor mit einem Anhänger und lud die Leichen auf. Somari musste neben ihnen sitzen und wurde nach Narayanpur gebracht.

Ich traf Chamri, die Mutter von Genosse Dilip, der am 6. Juli 2009 erschossen wurde. Sie sagte, dass die Polizei, nachdem sie ihn ermordet hatte, ihn wie ein Tier an einen Pfosten band und mitnahm. (Sie müssen die Leichen vorzeigen, um ihre Prämie zu bekommen, bevor irgendjemand anderes bei dem Mord mitmischt.) Chamri rannte hinter ihnen her den ganzen Weg bis zu der Polizeistation. Als sie ankamen, hatte die Leiche keine Faser mehr am Leib. Unterwegs, sagt Chamri, ließen sie die Leiche am Wegesrand liegen, während sie in einem Dhaba [bescheidene, indische Fassung der Autobahnraststätte] Tee tranken mit Biskuit (wofür sie nicht bezahlten). Man stelle sich für einen Augenblick die Mutter vor, die der Leiche ihres Sohnes folgt durch den Wald, in einiger Entfernung anhält, um zu warten, bis die Mörder ihren Tee getrunken hatten. Sie gaben ihr nicht die Leiche, damit sie ihn ordentlich begraben konnte. Sie ließen sie nur ein Handvoll Erde in das Loch werfen, wo sie auch die anderen begruben, die sie an dem Tag getötet hatten. Chamri sagt, sie will Rache. Badla ku badla. Blut für Blut.

Ich traf die gewählten Mitglieder der Marskola Janatana Sarkar, die sechs Dörfer verwaltet. Sie beschrieben einen Polizeiüberfall: Sie kommen nachts, 300, 400, manchmal 1000. Sie legen einen Kordon um das Dorf und liegen und warten. In der Dämmerung fangen sie die ersten Leute, die auf die Felder gehen und benutzen sie als menschliche Schilde, um in das Dorf zu gelangen, um ihnen zu zeigen, wo die booby-traps [Sprengfallen] liegen (Booby-traps ist ein Gondi-Wort geworden. Jeder lächelt, wenn er das Wort hört. Der Wald ist voller booby-traps, echten und falschen. Selbst die PLGA muß an den Dörfern vorbeigeführt werden.) Ist die Polizei erst einmal im Dorf, dann plündert sie und stiehlt und verbrennt die Häuser. Sie kommen mit Hunden, die jene fangen, die zu fliehen versuchen. Sie jagen die Hühner und die Schweine und die Polizei tötet sie und nimmt sie mit in Säcken. SPO kommen zusammen mit der Polizei. Sie sind diejenigen, die wissen, wo die Leute ihr Geld und ihren Schmuck verstecken. Sie fangen Leute und nehmen sie mit. Und erpressen Geld von ihnen, bevor sie sie freilassen.  Sie haben immer Naxal-Tarnanzüge dabei, falls sie jemanden finden zu töten. Sie bekommen Geld, wenn sie Naxals töten, weshalb sie extra Naxal-Klamotten anfertigen lassen. Die Dorfbewohner haben zu viel Angst, um zuhause zu bleiben.


Richtig aufgetakelt: Adivas-Jungens in der farbenprächtigen, traditionellen Kleidung für die Feiern am Bhumkaltag.

In diesem so ruhig aussehenden Wald scheint das Leben jetzt völlig militarisiert zu sein. Die Leute kennen Wörter wie Cordon und Search, Firing, Advance, Retreat, Down, Action! Um zu ernten, brauchen sie die PLGA, damit sie Wachen aufstellt. Auf den Markt zu gehen, ist eine militärische Operation. Die Märkte sind voller Mukhbirs (Informanten), die von der Polizei mit Geld aus ihren Dörfern gelockt worden sind. Mir wird gesagt, dass es eine Mukhbir Mohalla (Informanten-Kolonie) in Narayyanpur gibt, wo mindestens 4000 Mukhbirs wohnen. Die Männer können nicht mehr auf den Markt gehen. Die Frauen gehen, aber sie werden sehr genau beobachtet. Wenn sie nur ein bisschen zu viel kaufen, werden sie von der Polizei angeklagt, dass sie es für die Naxals kaufen. Apotheker haben die Anweisung erhalten, die Leute keine Medikamente kaufen zu lassen, außer in ganz kleinen Mengen. Niedrigpreis-Rationen vom Public Distribution System (PDS = Öffentliches Verteilersystem) wie Zucker, Reis, Kerosin finden sich in Warenhäusern in oder nahe von Polizeistationen, was es den meisten Leuten unmöglich macht, sie zu kaufen.

Artikel 2 der UN-Konvention zur Verhinderung und Bestrafung von Genozidverbrechen wird folgendermaßen definiert:

„[w]er in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, vorsätzlich

1.         Mitglieder der Gruppe tötet,
2.         Mitgliedern der Gruppe schwere körperliche oder seelische Schäden […] zufügt,
3.         die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, deren körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen,
4.         Maßregeln verhängt, die Geburtenraten innerhalb der Gruppe verhindern sollen,
5.         Kinder der Gruppe in eine andere Gruppe gewaltsam überführt“.

Das viele Marschieren scheint mich ganz fertig gemacht zu haben. Ich bin müde. Kamla besorgt mir einen Topf heißen Wassers. Ich bade hinter einem Baum im Dunklen. Aber ich kann nichts zu Abend essen und krabble in meinen Schlafsack, um zu schlafen. Da verkündet Genosse Raju, dass wir weiter müssen. Das geschieht natürlich häufig, aber heute kommt es mich hart an. Wir haben auf einer offenen Wiese gelagert. Wir haben Schießereien in der Entfernung gehört. Wir sind 104. Wieder im Gänsemarsch durch die Nacht. Grillen. Der Duft von etwas wie Lavendel. Es muss schon 23 Uhr vorbei sein, als wir an einem Platz ankommen, wo wir die Nacht verbringen werden. Am Rande einer Felsformation. Anwesenheitsappell. Jemand stellt das Radio an. BBC sagt, dass es einen Angriff auf ein Lager der Eastern Frontier Rifles in Lalgarh, Westbengalen gegeben hat. 60 Maoisten auf Motorrädern. 14 Polizisten getötet. Zehn vermisst. Waffen erobert. Es gibt ein Gemurmel der Freude in den Reihen. Der Maoisten-Führer Kishenji wird interviewt. Wann werdet ihr diese Gewalt beenden und zu Gesprächen kommen? Wenn die Operation Green Hunt abgeblasen wird. Jeder Zeit. Sagt Chidambaram, dass wir sprechen wollen. Nächste Frage: Es ist dunkel jetzt. Ihr habt Landminen gelegt, Verstärkungen sind herbeigerufen worden. Werdet ihr sie auch angreifen? Kishenji: Ja, natürlich, sonst werden die Leute mich verprügeln. Es wird gelacht in den Reihen. Sukhdev sagt zur Erklärung: „Sie sagen immer Landminen. Wir benutzen keine Landminen sondern IED [improvised explosive devices = selbstgebaute Explosivladungen. D.Ü.].“

Wieder eine Luxus-Suite im Tausend-Sterne-Hotel. Ich fühle mich krank. Es beginnt zu regnen. Ich höre ein Gekicher. Kamla wirft ein Jhilli über mich. Was brauche ich mehr? Alle anderen rollen sich einfach in ihre Jhillis.

Am nächsten Morgen ist die Todeszahl in Lalgarh auf 21 gestiegen mit 10 Vermissten.      

Genosse Raju nimmt Rücksicht heute. Wir werden nicht vor dem Abend weitermarschieren.

Eines Nachts drängen sich die Leute wie Motten um einen Lichtpunkt. Es ist Genosse Sukhdevs winziger Computer, der von einem Solarpaneel betrieben wird. Sie schauen Mother India und ihre Gewehrläufe zeichnen sich gegen den Himmel ab. Kamla scheint nicht interessiert zu sein. Ich frage sie, ob sie gerne Filme sieht. „Nahin didi. Sirf ambush video (Nein, didi. Nur Videos von Hinterhalten).“ Später frage ich Sukhdev über die ambush videos. Ohne mit der Wimper zu zucken, spielt er eins für mich.

Es beginnt mit Aufnahmen von Dandakaranya, von Flüssen, Wasserfällen, mit einer Nahaufnahme eines nackten Baumzweiges, einem rufenden Wechselkuckuck. Dann plötzlich spult ein Genosse ein IED ab, bedeckt es mit trockenen Blättern. Eine Kavalkade von Motorrädern geht in die Luft. Es gibt verstümmelte Körper und brennende Motorräder. Die Waffen werden geschnappt. Drei Polizisten, die unter Schock stehen, werden gebunden.

Wer filmt es? Wer leitet die Operationen? Wer versichert den gefangenen Bullen, dass sie freigelassen werden, wenn sie sich ergeben? (Das wurden sie, wie ich später herausfand.)

Ich kenne die angenehme, beruhigende Stimme. Es ist Genosse Venu.

„Es ist der Hinterhalt in Kudur,“ sagt Genosse Sukhdev.

Er hat auch ein Video-Archiv von verbrannten Dörfern, Aussagen von Zeugen und Verwandten der Toten. Auf der versengten Wand eines verbrannten Hauses steht: 'Nagaa! Born to kill1!' Es gibt eine Szene von einem kleinen Jungen, dessen Finger abgehackt wurden zur Einweihung des Bastar-Kapitels von Operation Green Hunt.  (Es gibt sogar ein Fernseh-Interview mit mir. Mein Arbeitsraum. Meine Bücher. Seltsam.)

Abends gibt es im Radio Nachrichten von einem weiteren Naxal-Angriff. Diesmal in Jamui, Bihar. Es heißt, dass 125 Maoisten ein Dorf angegriffen und 10 Leute vom Kora Volk getötet hätten, als Vergeltung dafür, dass sie der Polizei Informationen gegeben hätten, die zum Tod von 6 Maoisten geführt hätten. Natürlich wissen wir, dass der Medienbericht wahr sein kann oder auch nicht. Aber wenn er wahr ist, dann ist er unverzeihlich. Genosse Raju und Sukhdev scheinen sich nicht wohl zu fühlen.

Die Nachrichten, die aus Jharkhand und Bihar gekommen sind, klingen verwirrend. Die grausige Köpfung des Polizisten Francis Induvar steht jedem noch lebhaft vor Augen. Sie erinnert daran, wie leicht die Disziplin des bewaffneten Kampfes sich in lumpige Akte von krimineller Gewalt auflösen kann oder in hässliche Kriege um Identität zwischen Kasten und kommunalen und religiösen Gruppen. Indem der indische Staat die Ungerechtigkeit institutionalisiert hat, hat er dies Land in ein Pulverfass massiver Unruhe verwandelt. Die Regierung ist klar im Unrecht, wenn sie glaubt, dass die Ausübung von 'gezielten Morden' die CPI (Maoisten) 'führungslos' macht und die Gewalt beendet. Im Gegenteil, die Gewalt wird sich ausbreiten und intensivieren und die Regierung wird niemanden haben, mit dem sie sprechen kann.

In meinen letzten Tagen ziehen wir in Mäandern durch das  üppige, wunderschöne Indravati-Tal. Als wir an einer Bergseite entlanglaufen, sehen wir eine zweite Reihe von Leuten, die in dieselbe Richtung laufen, aber auf der anderen Seite. Mir wird gesagt, dass sie auf dem Weg zu einer anti-Staudamm-Versammlung im Dorf Kudur sind. Sie gehören nicht dem Untergrund und sind nicht bewaffnet. Eine örtliche Versammlung für das Tal. Ich nutze die Gelegenheit und schließe mich ihnen an.

Der Bodhghat-Damm wird das gesamte Gebiet überfluten, durch das wir tagelang gewandert sind. Den ganzen Wald, die ganze Geschichte, alle die Geschichten. Mehr als 100 Ortschaften. Ist das also der Plan? Die Menschen wie Ratten zu ertränken, damit das integrierte Stahlwerk in Lohandiguda und die Bauxit-Mine und die Aluminium-Raffinerie in Keshkal Ghat den Fluss haben können?

Auf der Versammlung sagten Leute, die meilenweit gelaufen waren,  dieselben Dinge, die wir seit all den Jahren gehört haben.  Wir werden ertrinken, aber wir gehen nicht fort! Sie sind bewegt, dass jemand aus Delhi bei ihnen ist. Ich sage ihnen, dass Delhi eine grausame Stadt ist, die sie weder kennt noch sich um sie kümmert.

Nur Wochen, bevor ich nach Dandakaranya kam, besuchte ich Gujarat. Der Sardar Sarovar-Stausee hat jetzt beinahe seine volle Höhe erreicht. Und beinahe jede Einzelheit, die Narmada Bachao Andolan (NBA) vorhergesagt hatte, ist eingetroffen. Die Leute, die verjagt wurden, sind nicht rehabilitiert worden, aber das ist ja normal. Die Kanäle sind nicht gebaut worden. Es gibt kein Geld. Das Narmada-Wasser wird also in das leere Flussbett des Sabarmati geleitet (der vor langer Zeit gestaut wurde.) Das meiste Wasser wird von Städten und der Industrie verbraucht. Die Auswirkungen am unteren Ende des Stroms – das Eindringen von Salzwasser in das Flussdelta ohne Fluss – ist unmöglich zu beseitigen.


Der lange Marsch: Maoisten auf dem Marsch nach Bastar, im Gänsemarsch wie immer.

Es gab eine Zeit, wo man glaubte, dass große Staudämme die „Tempel des modernen Indiens“ wären – aber das war falsch, wenn auch vielleicht verständlich. Aber heute, nach all dem, was geschehen ist, und mit all dem Wissen, das wir haben, muss man sagen, dass große Staudämme ein Verbrechen gegen die Menschheit sind.

Der Bodhghat-Damm wurde 1984 auf Eis gelegt, nachdem die örtlichen Bewohner protestiert hatten. Wer wird ihn jetzt stoppen? Wer wird verhindern, dass der Grundstein gelegt werden wird? Wer wird verhindern, dass der Indravati gestohlen wird? Irgendjemand muss es tun.

In der letzten Nacht lagern wir am Fuße eines steilen Hügels, den wir am Morgen besteigen würden, um zu der Straße zu kommen, von wo mich ein Motorrad abholen wird. Der Wald hat sich verändert seit dem Moment, als ich ihn betrat. Die Chiraunji [Buchanania lanzan, ein immergrüner, bis zu 15 Meter hoher Baum, dessen Wurzel, Wurzelrinde, Blätter, Früchte und Harz verwendet werden] und die Mangobäume haben zu blühen begonnen.

Die Dorfbewohner von Kudur schicken einen riesigen Topf frisch gefangenen Fisch in das Lager. Und eine Liste für mich über 71 Arten von Früchten, Gemüsen, Hülsenfrüchten und Insekten, die sie aus dem Wald gewinnen und auf den Feldern anbauen – mitsamt den Marktpreisen. Aber es ist auch eine Karte von ihrer Welt.

Die Dschungelpost kommt. Zwei Biskuits für mich. Ein Gedicht und eine gepresste Blüte von Genossin Narmada. Ein lieber Brief von Maase. (Wer ist sie? Werde ich es je erfahren?)

Genosse Sukhdev fragt, ob er die Musik von meinem Ipod auf seinen Computer runterladen kann. Wir hören uns eine Aufnahme von Iqbal  Bano an, die das Lied Hum Dekhenge (Wir werden den Tag erleben) von Faiz Ahmad Faiz singt von dem berühmten Konzert in Lahore auf dem Höhepunkt der Unterdrückung während des Zia-ul-Haq-Regimes.

Jab ahl-e-safa.Mardud-e-haram,
Masnad pe bithaiye jayenge
(Wenn die Häretiker und die Geschmähten oben sitzen werden)
Sab taaj uchhale jayenge
Sab takht giraye jayenge
(Alle Kronen werden heruntergerissen
und die Throne gestürzt)
Hum dekhenge

Fünfzigtausend Menschen im damaligen Pakistan stimmen einen herausfordernden Gesang an: Inqilab Zindabad! Inqilab Zindabad! Und so viele Jahre danach erschallt dieses Lied in diesem Wald. Seltsam die Bündnisse, die geschlossen werden.

Und die Innenminister erlassen verhüllte Drohungen gegen jene, die „irrtümlich intellektuelle und materielle Unterstützung für die Maoisten leisten“. Trifft das zu, wenn man Musik teilt?

Im Morgengrauen nehme ich Abschied von den Genossen Madhav und Joori, dem jungen Mangtu und all den anderen. Genosse Chandu ist losgegangen, um die Motorräder zu organisieren und wird mit mir zur Hauptstraße gehen. Genosse Raju ist nicht gekommen (der Aufstieg würde höllisch für seine Knie sein). Genossin Niti (die meiste Gesuchte), Genosse Sukhdev, Kamla und fünf andere werden mich den Berg hoch begleiten. Als wir den Marsch antreten, lassen Niti und Sukhdev gleichzeitig und beiläufig die Entsicherung ihrer AK klicken. Es ist das erste Mal, dass ich sie das tun sehe. Wir nähern uns der 'Grenze'. „Weißt du, was du zu tun hast, wenn wir unter Feuer geraten?“ fragt Sukhdev, als wäre das die gewöhnlichste Sache der Welt.

„Ja“, sage ich, „sofort einen unbegrenzten Hungerstreik erklären.“

Er setzte sich auf einen Felsen und lachte. Wir kletterten eine Stunde aufwärts. Direkt unterhalb der Straße saßen wir in einem Felsenalkoven, vollständig verborgen wie bei einem Hinterhalt, und horchten auf die Geräusche von Motorrädern. Wenn sie kommen, muss der Abschied schnell gehen. Lal Salaam, Genossen.

Als ich zurückschaute, waren sie immer noch dort. Winkend. Immer kleiner werdend. Menschen, die mit ihren Träumen leben, während der Rest der Welt mit seinen Albträumen lebt. Jede Nacht denke ich an diese Reise. Jenen Nachthimmel, jene Waldpfade. Ich sehe Genossin Kamlas Fersen in ihren abgewetzten Sandalen, von meiner Taschenlampe erhellt. Ich weiß, dass sie auf dem Marsch sein muss. Marschieren, nicht nur für sich allein, sondern um die Hoffnung für uns alle aufrechtzuerhalten.


Quelle:  Walking With The Comrades

Originalartikel veröffentlicht am 29.3.2010

Über die Autorin

Einar Schlereth und Fausto Giudice sind  Mitglieder von Tlaxcala, dem internationalen Übersetzernetzwerk für sprachliche Vielfalt. Diese Übersetzung kann frei verwendet werden unter der Bedingung, daß der Text nicht verändert wird und daß sowohl der Autor, der Übersetzer, der Herausgeber als auch die Quelle genannt werden.

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Arundhati ROY अरुणधती राय
Einar Schlereth. Herausgegeben von Fausto Giudice


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