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Sonntag, 24.11.2024

Denn sie wissen, was sie tun: Thema in "Junge Welt"

Dokumentation. Folter ist zwar offiziell international geächtet. Im »Krieg gegen den Terror« wird das absolute Folterverbot aber zunehmend aufgeweicht. Deutsche Juristen wirken daran maßgeblich mit.

Der hier von jW dokumentierte Auszug aus einem Text der internationalistischen Initiative Libertad! analysiert Folter und Feindstrafrecht im Kontext des »Kriegs gegen den Terror«. Die vollständige Textfassung ist Teil eines Plakates, das Folterbefürworter in Deutschland benennt. Informationen zur Kampagne und Bestelladresse unter .

Gleich hinter dem deutschen Gartenzaun wird die Welt gefährlich. Die Umgangsformen werden rauher, Terroristen lauern, Piraten überfallen Handelsschiffe und illegale Einwanderer drohen »unser Land« zu überfluten. Die Welt könnte schön sein und auch gut, aber sie ist es nicht. Nicht in Afghanistan, nicht in Somalia, nicht im Gaza-Streifen, nicht an den europäischen Außengrenzen und auch nicht in einem deutschen Flüchtlingslager. Ja, noch nicht einmal im Sauerland. »Das sind sehr gefährliche Leute«, wußte schon der ehemalige US-Generalstabschef Richard B. Myers von den Gefangenen in Guantanamo zu sagen, »die würden die Hydraulik im Hinterraum einer C-17 durchnagen, um sie zum Absturz zu bringen«.

Der Krieg gegen den Terror geht jetzt in sein zehntes Jahr, ohne Aussicht auf Erfolg, aber immer mit der Option, ihn mit möglichst wenig eigenen Verlusten und ohne großen Imageschaden aufrechtzuerhalten. Ein moderner Abnutzungskrieg vor allem auf Kosten der Bevölkerung in den Kriegsgebieten, wo der Ausnahmezustand die Regel ist. So erklärte der israelische Außenminister Lieberman auf die Frage des Spiegel nach einer Lösung im israelisch-palästinensischen Konflikt: »Ich sehe derzeit keine Lösung, wir sollten uns darauf konzentrieren, den Konflikt zu managen. Sehen sie eine Lösung in Afghanistan? Im Irak?«

Während sich in den westlichen Medien an der Grundausrichtung des Kriegs gegen den Terror über die Jahre nur wenig Kritik entzündete, stand Guantanamo schon sehr bald in ihrem Brennpunkt. Das Gefangenenlager wurde zum Synonym für Folter und Menschenrechtsverletzungen in der Bush-Ära, so daß Obama im Januar 2009 offiziell verkündete: Guantanamo soll innerhalb eines Jahres geschlossen werden. CIA-Gefängnisse und »harte Verhörmethoden« werde es nicht mehr geben. Doch Obamas Ankündigungen und die Realpolitik der US-Sicherheitsbehörden sind zwei Paar Schuhe. Guantanamo existiert immer noch, und das Internierungslager in Bagram in Afghanistan wurde in den letzten Jahren für 60 Millionen Dollar ausgebaut. (...)

Die repressive Entwicklung in Staat und Gesellschaft, die sich aufgrund veränderter weltweiter Kräfteverhältnisse schon vor dem 11. September abzeichnete, erfuhr durch diesen eine ungeheure Beschleunigung. Passend dazu erleben wir seit ein paar Jahren eine gesellschaftliche Debatte, die das absolute Folterverbot zunehmend in Frage stellt. Das bekannteste Beispiel dafür ist in Deutschland sicher die Diskussion um den ehemaligen Frankfurter Polizeivizepräsidenten Daschner, der im Herbst 2002 einem Kindesentführer Folter androhen ließ. Nein, ein Einzelfall war der »Fall Daschner« nicht. Besonders in akademischen Kreisen mehren sich die Stimmen, das Folterverbot zu relativieren. An vorderster Front befinden sich dabei einige deutsche Juristen, vor allem Straf- und Staatsrechtler an verschiedenen Instituten, die sich verstärkt mit der Frage beschäftigen, ob Folter in bestimmten Gefahrensituationen gerechtfertigt, ja sogar geboten sei, um diese dann entweder mit einem relativierenden »Nein, aber« oder auch gleich mit einem eindeutigen »Ja, sicher« zu beantworten. (…)

Honorige Schreibtischtäter

Im Visier der juristischen Schreibtischtäter ist das gefährliche Individuum, das erklärtermaßen außerhalb von Recht und Gesellschaft steht. »Der Feind ist ein Individuum, das sich in einem nicht nur beiläufigen Maß in seiner Haltung..., oder seinem Erwerbsleben ... oder, hauptsächlich, durch seine Einbindung in eine Organisation (...) dauerhaft vom Recht abgewandt hat und insoweit kognitive Mindestsicherheit personellen Verhaltens nicht garantiert und dieses Defizit durch sein Verhalten demonstriert.« Da ist es wieder, das gefährliche Individuum, das bereit ist, die Hydraulik eines Flugzeuges durchzunagen, um es zum Absturz zu bringen. Das Zitat stammt vom vielleicht prominentesten Fürsprecher des sogenannten Feindstrafrechts, dem emeritierten Bonner Strafrechtsprofessor Günther Jakobs.

In seinem Aufsatz mit dem Titel Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht von 2004 wird er dann noch deutlicher. Anfangs philosophiert er über Kant, Fichte und andere, um dann schließlich so richtig zur Sache zu kommen: »Wer den Krieg gewinnt, bestimmt, was Norm ist, und wer verliert, hat sich dieser Bestimmung zu beugen. (...) Aber es ist doch sehr wohl zu fragen, ob nicht durch die strikte Fixierung allein auf die Kategorie des Verbrechens dem Staat eine Bindung auferlegt wird – eben die Notwendigkeit, den Täter als Person zu respektieren – die gegenüber einem Terroristen (...) schlechthin unangemessen ist.«

Die logische Konsequenz dieses Denkens ist Guantanamo. So sieht das auch Otto Depenheuer, Staatsrechtsprofessor in Köln. Bekannt wurde er mit einem Buch, das den Titel »Selbstbehauptung des Rechtsstaates« trägt. Darin kann man lesen, daß Rechtlosigkeit, Guantanamo und Folter angesichts des islamistischen Terrors gerechtfertigt seien: »Phänomenologische Chiffre für die Rechtlosigkeit des Feindes und Maßgeblichkeit reiner Staatsräson, steht Guantanamo‚ als ein Ort, an dem Recht so lange suspendiert ist, wie die Gefahr andauert. Die Gefangenen haben hier nicht den Status von Rechtssubjekten, sie haben nur noch ihr nacktes Leben. (...) Systematisch zum Feindgefahrenabwehrrecht würden auch spezielle (...) Maßnahmen der präventiven Sicherungsverwahrung ebenso zählen wie solche der Internierung potentiell gefährlicher Personen oder die kontrovers diskutierte Frage nach einer ›rechtsstaatlich domestizierten‹ Folter.«

Rechtsstaatlich domestizierte Folter. Das ist es, was diese Herren so umtreibt. Ein weiterer Begriff, mit dem man versucht, Folter quasi positiv zu besetzen, ist »Rettungsfolter«. So vertritt schon seit Mitte der 1990er Jahre der Heidelberger Rechtswissenschaftler Winfried Brugger die These, daß Folter in bestimmten Gefahrensituationen gerechtfertigt, ja sogar geboten sei. Brugger entwirft folgendes Horrorszenario, das ein bißchen an die bis 1983 praktizierten Gewissensprüfungen für Kriegsdienstverweigerer erinnert: »Eine Stadt wird von einem Terroristen mittels einer chemischen Bombe erpreßt. Der Verdächtige wird gefaßt und berichtet glaubhaft, den Zeitzünder der Bombe bereits betätigt zu haben. Sobald die Bombe hochgehe, würden alle Einwohner der Stadt eines grausamen Todes sterben. Die Androhung aller Zwangsmittel nützt nichts, der Verdächtige schweigt.« Davon ausgehend baut er seine Argumentation auf und folgert: »Das Ergebnis (...) ist, so erstaunlich das klingen mag, daß die Polizei nicht nur ausnahmsweise in diesem Fall foltern darf, sie muß es sogar in der geschilderten Sachverhaltskonstellation. Und die betroffenen Bürger haben einen Anspruch darauf.«

Der Begriff Rettungsfolter wurde übrigens von Reinhard Merkel im Zusammenhang mit dem Fall Daschner geprägt. Dieser Strafrechtsprofessor in Hamburg ist wie seine Kollegen ein Freund markiger Worte. So meinte er, daß ein Staat, der trotz einer Bedrohung nicht foltere, zum Gehilfen an einem Massenmord werde. Und um aller Welt seine Thesen zu erklären, bot ihm Die Zeit 2008 dafür auch noch ausführlich Platz an. Wie schon bei Brugger ist der Ausgangspunkt ein konstruiertes Beispiel: » (...) an Bord einer Verkehrsmaschine über dem Atlantik wird eine Bombe gefunden. Sie hat einen Zeitzünder, der sie in dreißig Minuten zur Explosion bringen wird. Der Bombenleger (...) ist ebenfalls an Bord und wird identifiziert. Er weigert sich, den (...) Code des Zündmechanismus zu offenbaren. (...) Ebenfalls an Bord ist, in dienstlicher Eigenschaft, der Polizist P. Ihm bleiben zwei Möglichkeiten: den Attentäter durch die Androhung und im Fall des Mißlingens durch die Zufügung von Schmerzen zum Entschärfen der Bombe zu zwingen oder sich mitsamt den anderen Passagieren töten zu lassen.«

Folter als Notwehr?

Mit Realität hat das selbstverständlich nichts zu tun. Aber darum geht es auch nicht. Entscheidend ist, daß mit solchen Beispielen in den Medien die Folter, positiv gewendet als Rettungsfolter, salonfähig gemacht werden soll. So schreibt er weiter: »Was ist es, das hier sogar den sonst fraglosen Grundsatz erschüttert, Folter sei ›absolut‹, also unter allen denkbaren Umständen verboten? Es ist die Situation der Notwehr. Das Recht auf Notwehr, das hat schon Kant gewußt, ist ›das heiligste Recht‹ der Person.« Von der tickenden Bombe über das heilige Notwehrrecht zur Aufkündigung der Anti-Folter-Konvention. Für Reinhard Merkel ist das ein Katzensprung: »Wer jemandem das Notwehrrecht nimmt, nimmt ihm das Recht selbst, das zu verteidigen untersagt wird. Ein Grundrecht auf Leben, das gegen rechtswidrige Angriffe nicht verteidigt werden dürfte, wäre keines mehr. Deshalb ist der Staat des Grundgesetzes nicht berechtigt, sich in völkerrechtlichen Verträgen an absolute Verbote zu binden, die einzelnen seiner Bürger in bestimmten Situationen das Recht zur Notwehr nehmen. Aber hat er das nicht? Ja, das hat er...« Folgerichtig stehen am Ende seines Artikels Überlegungen, daß Deutschland der Anti-Folter-Konvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte nicht hätte beitreten sollen, weil diese völkerrechtlichen Verträge ein absolutes Folterverbot enthalten.

Für Juristen wie Jakobs, Depenheuer, Brugger, Merkel u.a. stehen diejenigen, die Staat und Gesellschaft bekämpfen, zwangsläufig außerhalb des geltenden Rechts und sind notfalls zum Abschuß freigegeben. Feindstrafrecht ist für sie nichts anderes als eine »Bekämpfungsgesetzgebung« und somit »gebändigter Krieg«. Die Konstruktion des gefährlichen Individuums zielt jedoch nicht nur auf Dschihadisten, sondern meint genauso kommunistische Guerillas, anarchistische Rebellen oder Widerstands-Aktivist/innen aus sozialen Bewegungen. In letzter Konsequenz kann damit jedes nicht systemkonforme Verhalten stigmatisiert, sozial ausgegrenzt und kriminalisiert werden.

Vorstöße, das Folterverbot in der BRD zu delegitimieren, hat es von prominenter Seite in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gegeben. Auch wenn darin oft schon eine Systematik erkennbar war, blieben diese Vorstöße an ein unmittelbares Ereignis gekoppelt oder an eine als Bedrohung definierte Situation, die es ermöglichen sollte, Folter als Ausnahme, sozusagen als »letztes Mittel« möglich zu machen. Dafür stehen Ernst Albrecht, Ministerpräsident von Niedersachsen in den 1970er Jahren, oder Franz-Josef Strauß u.v.a. während und nach dem sogenannten Deutschen Herbst. Sie machten Stimmung gegen die Gefangenen aus der Guerilla von RAF und Bewegung 2. Juni und wollten Handlungsspielraum für Polizei und Geheimdienste schaffen. All das bezog sich auf die »blutige Folter« und damit auf die unmittelbare Informationsgewinnung.

Obwohl es das auch als reale Praktiken in der Bekämpfung von Guerillagruppen gab, in anderen europäischen Ländern (in Spanien gegen die ETA, in Italien nach der Entführung des NATO-Generals Dozier) mehr als in Deutschland, aber auch hier, konzentrierte sich die Staatsschutz-Bürokratie und Rechtswissenschaft eher darauf, die Formen der auf langfristige Wirkung ausgerichteten, »verdeckte«, »stille« oder auch »weiße« Folter genannte, Zerstörung der politischen Gefangenen zu systematisieren und zu rechtfertigen. Bestimmend war dabei die Leugnung der Folter, das Abstreiten. (...)

Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zum aktuellen Folter-Diskurs. Seit dem 11. September und dem »Fall Daschner« wird Folter immer häufiger offensiv begründet und gerechtfertigt. Und sie wurde durch die Bilder von Guantanamo und Abu Ghraib vor aller Augen in Szene gesetzt. In dieser Normalisierung von Folter und Krieg sehen wir eine grundlegende Verschiebung im Koordinatensystem der bürgerlich-imperialistischen Demokratie. (...)

Verrechtlichter Ausnahmezustand

Von der Ausnahme zur Regel, oder wie SPD-Juristen schon in den 1970er Jahren formulierten, den Ausnahmezustand justizförmig zu machen, das hat in Deutschland eine besondere Tradition. Vom Kaiserreich bis heute: Zur Staatsdoktrin hierzulande gehört nun mal die Verrechtlichung sowohl der Klassenherrschaft wie des Klassenkampfs, denn der bürgerliche Frieden war und ist nach innen wie außen immer ein bewaffneter Frieden. Dieses Konstrukt in Vollzug zu setzen und den dauerhaften Ausnahmezustand zu normalisieren und damit handhabbar für die politische Klasse wie für ihre Verwaltung zu machen, obliegt den Juristen.

Nicht zufällig verwenden wir mit »Denn sie wissen, was sie tun« den Titel eines Buches, das sich genau mit der machterhaltenden Perfidie deutscher Juristen auseinandersetzt. Ernst Ottwalt, Mitbegründer des Genres des »Tatsachenromans«, beschreibt in dieser Montage aus Dokumentation und fiktionalen Episoden eine Richter-Karriere in der Weimarer Republik, die keinen Zweifel daran läßt, daß diese Sorte Schreibtischtäter weiß, was sie tut.

»Was mir gefällt«, schrieb Kurt Tucholsky in einer Buchbesprechung zu Ernst Ottwalts Justizroman, »ist: dieser Jurist ist kein schwarzes Schwein, kein wilder Berserker, kein besonders bösartiger Mensch – er ist das Produkt von Erziehung, Kaste und System. Es ist gut gesehen, wie die Rädchen des großen Unrechtgetriebes ineinandergreifen, Akte auf Akte, Paragraph auf Paragraph, die Verantwortung ist in unendlich winzige Teile zerteilt, und zum Schluß ist es keiner gewesen«.

Im Dezember 1945 führten die Alliierten mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit ein. Nur mit Hilfe dieses völlig neuen Straftatbestandes war es ihnen möglich, in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen NS-Täter anzuklagen. Es stellte sich nämlich heraus, daß im faschistischen Deutschland die Zerschlagung der Arbeiter/innenbewegung, die Schaffung von Konzentrationslagern, die Beraubung und Arisierung jüdischen Besitzes, die Ermordung Zehntausender Oppositioneller, die millionenfache Zwangsarbeit, selbst der Massenmord und Genozid im Rahmen der in Nazi-Deutschland herrschenden Rechtsnormen stattfanden. Auch der »Führerbefehl« war dort verankert.

Die heute verwendete Formel vom »nationalsozialistischen Unrechtsstaat« ist nicht präzise und verkennt die Doppelnatur des nationalsozialistischen Staates als bis ins Letzte geordneter und verrechtlichter Staat des permanenten Ausnahmezustands. Selbst die scheinbar purste Willkür hatte von hochrangigen Juristen formulierte Ausführungsbestimmungen, und ihr lagen Gesetze und Verordnungen zugrunde, die nicht von Nazischlägern, sondern von akademisch graduierten Beamten ersonnen wurden. Niemand konnte sich so raffinierte Gemeinheiten einfallen lassen, um den ausgemachten (Volks-)Feind systematisch zu erniedrigen, auszurauben und zu zerstören, wie deutsche Juristen und Bürokraten. Was in der wissenschaftlichen Literatur oft als Gegensatz von Normen- und Maßnahmenstaat bzw. Rechts- und Unrechtsstaat diskutiert wird, bildet in Deutschland allerdings schon lange ein komplettes Ganzes. »Im Hintergrund des Normenstaates lauert ständig ein Vorbehalt: Die Erwägung der politischen Zweckmäßigkeit. Dieser politische Vorbehalt gilt für das gesamte deutsche Recht«, schrieb Ernst Fraenkel in seiner Analyse von Recht und Justiz im Nationalsozialismus (»Der Doppelstaat«, 1940).

Die Feindmarkierung als wesentliches Kriterium von Recht als Herrschaftsinstrument durchzieht die deutsche Geschichte: Von Hegel bis Carl Schmitt, von Roland Freisler bis zu den heutigen Befürwortern eines an keine Rechtsgarantien gebundenen »Feindstrafrechts«. So war die faschistische Spielart des verrechtlichten Ausnahmezustands eine Variation dessen, daß in Deutschland Verwaltung, Recht und Rechtsprechung unter den Aspekt des zu bekämpfenden Feindes gestellt sind. Das aber begründete Bismarck schon mit dem »Sozialistengesetz« und fand nach 1945 in der Konstruktion der »wehrhaften Demokratie« genauso seine Fortsetzung wie in der Schaffung der spezifischen Staatsschutzjustiz gegen die RAF und in den »Anti-Terror«-Gesetzen nach 2001. (...)

Tatsache ist: Der »Krieg gegen den Terror« hat Spuren hinterlassen. Es sind nicht »nur« die vielen Toten, die bis heute in den Meldungen der Medien als Kollateralschäden verbucht werden und für die gilt, was im Kolonialverhältnis für die Metropolengesellschaften schon immer selbstverständlich war: Weißes Leben ist mehr wert. Es sind auch die verheerenden Auswirkungen auf die sozialen und politischen Prozesse in den vom Krieg direkt betroffenen Gesellschaften. Statt Aufbau und Schutz sind die Konsequenzen der NATO-Kriegspolitik in Afghanistan nach gründlicher Vorarbeit durch Bürgerkrieg, Demoralisierung, Militarisierung und eine mehr als mangelhafte Ökonomie aufgrund fehlender Infrastruktur, Korruption und der Dominanz des Krieges.

Keine Komplizenschaft!

Und was für Afghanistan gilt, gilt genauso für viele andere Gegenden des Südens. Die zivilisatorischen Segnungen des Kapitalismus kamen schon immer zuerst einmal den privilegierten Klassen des Nordens zugute, während der Rest bis heute vor allem mit seiner zerstörerischen Gewalt konfrontiert ist. Das »schöne« und für viele auch attraktive Leben hier (digitale Kommunikation, globale Mobilität, gepflegter Konsum), hat nach wie vor seine Kehrseite in Strukturen der Rechtlosigkeit und sozialen Ausgrenzung dort. Es ist diese Verbindung, die wir mit unserer Kampagne gegen Folter und Lagerhaft ziehen wollen. Gegen die Illusion eines Nebeneinanders von Krieg und gutem Leben.

Unsere Kampagne zielt auch auf die typisch linke Ignoranz, die Folter und Menschenrechtsverletzungen gewissermaßen zur Ressortfrage erklärt und in die Zuständigkeit von Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International legt. Zweifelsohne hat der »Krieg gegen den Terror« neue Maßstäbe gesetzt. Durch ihn wurden Dinge möglich, die vor ein paar Jahren noch auf breiteste Ablehnung gestoßen wären. Am deutlichsten wurde das für uns an der Frage der Folter und der Selbstverständlichkeit, mit der heute das Recht zu foltern eingefordert wird. (...)

Dementsprechend hat der »Krieg gegen den Terror« auch hier in Gesellschaft und Politik Spuren hinterlassen. Und er konfrontiert die Linke mit ihren eigenen Schwächen. Einerseits greifen die alten Parolen und Analysen nicht mehr, weil es zum Beispiel in Afghanistan in erster Linie weder um Bodenschätze noch um Kapitalexport geht, sondern um imperialistische Sicherheitspolitik (Stichwort »politische Stabilisierung«) angesichts der vielfältigen und umfassenden Krise des Kapitalverhältnisses. Andererseits haben sich Teile der radikalen Linken mit dem globalen Krieg faktisch arrangiert. Schließlich bedroht ein totalitärer Feind in Gestalt der islamischen Gottes­krieger die westliche Zivilisation. Und so findet man sich schlimmstenfalls in einer Front mit konservativen Intellektuellen, Künstlern und Verfassungsschützern wieder, die zwar Demokratie, Freiheit und Aufklärung sagen, in letzter Konsequenz aber ihre Metropolenprivilegien meinen.

Doch emanzipatorische Politik in den Zentren läßt sich überhaupt nicht jenseits der globalen Verwerfungen entwickeln. Wer das anders denkt, hat schon verloren. Auch eine neu zu bestimmende revolutionäre Politik muß von den weltweiten Widersprüchen ausgehen. Im Zentrum der Macht bedeutet das, um wenigstens ein paar Kriterien zu nennen: keine Komplizenschaft mit ihr, Delegitimierung von NATO und Bundeswehr und kompromißlose Positionierung gegen Krieg und Folter. Und es bedeutet, daß der auf Abschreckung und Kaltstellen angelegte globale Ausnahmezustand immer wieder durchbrochen werden muß: von Seattle bis Heiligendamm, von Athen bis zu den Revolten der Flüchtlinge, von den kommunistischen Guerillas in Indien bis zu den Bergen Kurdistans. Wessen Welt ist die Welt? Diese alte kommunistische Frage steht nach wie vor auf der Tagesordnung.

Die Initiative Libertad! ist organisiert in der Interventionistischen Linken. Ihren Arbeitsschwerpunkt bilden die Themenbereiche Menschenrechte und Antirepression. Informationen unter:

Tageszeitung junge Welt, 26.10.2010 / Thema / Seite 10


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